Zweilicht
sie ihren Kopf auf die Brust sinken und nutzte den Blickwinkel, um die Entfernung einzuschätzen. Noch ein bisschen näher , flehte sie in Gedanken. Komm schon, Monster! Irgendwo links von ihnen polterten Schritte, aber das Mondmädchen war so sehr auf Ivy konzentriert, dass sie nicht darauf achtete.
»Wendigo wird zufrieden sein.« Ihr Tonfall bekam etwas Hypnotisches, Eindringliches, das Ivy eine Gänsehaut über Arme und Rücken jagte. »Ich befehle dir, Wendigo etwas zu verraten, solange du noch lebst. Sag ihm, wo sich die anderen Menschen wie Mäuse unter dem Schnee verstecken. Vor allem der Kerl, der Ban getötet hat.«
Es war nur ein Moment aufwallender Empörung, aber er genügte. Wie ein kleiner, spitzer Ton, der eine Lawine auslöst, überschwemmte Ivy ihr ganzer Zorn und fegte ihre Angst hinweg. Und als sie sah, wie nah das Mondmädchen ihr gekommen war, erkannte sie mit kühlem Triumph, dass sie richtig kalkuliert hatte. »Sag’s ihm doch selber«, zischte sie.
Rostschichten splitterten unter seinen Fingern und rieselten wie brauner Schnee nach unten. Der Speer rutschte endgültig über das brechende Geländer und fiel tief hinunter auf die Fahrbahn. In letzter Sekunde fing Jay sich ab, bevor der Schwung seines Aufpralls auch ihn nach unten beförderte. Aus dem Augenwinkel sah er eine blitzschnelle Bewegung. Sie stößt mich runter! Er warf sich instinktiv zur Seite, rollte sich ab – und erwischte mit seiner Ferse einen federnden Rücken, der sofort zur Seite zuckte. Über ihm schnellten zwei längliche Körper durch die Luft, eine Pfote streifte seine Stirn. Dann geschah alles gleichzeitig: Linda, die Anlauf nahm, irgendwo entfernt der entsetzte, schrille Aufschrei des Mondmädchens – und das Rudel Kojoten, das sich auf Linda stürzte. Dann war alles ein kochender Strudel aus zuschnappenden Mäulern, gebleckten Zähne und wirbelnden Körpern. Linda torkelte unter dem Angriff zurück, aber erst als sie sich mit einem Satz auf die Brüstung flüchtete, ließen die Kojoten von ihr ab. Schwer atmend kletterte sie ein Stück am Seil nach oben und klammerte sich mit Armen und Beinen fest, während die Kojoten sie in Schach hielten. Aidan war totenblass und so nervös, dass sein Mundwinkel zuckte, aber als er Jay die Hand hinstreckte, leuchtete in seinen Augen die Faszination für das absolute Chaos.
»Soll ja keiner sagen, wir wären nicht dabei gewesen«, sagte er und zog Jay auf die Füße.
*
Mo war so überrascht, dass sie im ersten Moment nicht einmal schreien konnte. Blitzschnell und so wendig wie eine Klapperschlange hatte Ivy sich hochkatapultiert. Sie war immer noch gefesselt, aber ihre Beine flogen hoch, und im nächsten Moment wand sich Mo auf dem Boden und konnte nicht einmal mehr zubeißen, nicht einmal Atem holen, und ihre nutzlose Kraft reichte nicht aus, um die Beine wegzudrücken, die sich um ihren Hals pressten. Sie ist nicht unter meinem Bann , schrie es in ihrem Kopf. Sie erwürgt mich! Irgendwo polterte es wieder, Night brüllte auf, doch die wild aufflackernde Hoffnung, dass die Älteste sie aus der Umklammerung retten würde, wurde enttäuscht. Bei einem verschwommenen Seitenblick entdeckte sie, dass Night an einem Stahlseil hing und überhaupt nicht sah, was hier vor sich ging. Verzweifelt bäumte sie sich auf und krümmte sich, suchte nach ihrer anderen Gestalt, aber es wurde ihr schwarz vor Augen. Mit letzter Kraft trat sie mit einer irrwitzigen Verrenkung zu und traf etwas Hartes, Knochiges, Zähne klackten aufeinander, offenbar hatte sie das Mädchen am Kinn getroffen. Der Griff lockerte sich kurz. Dieser Moment genügte, um Luft zu holen. Mo wollte gerade nach Hilfe rufen, als das Mädchen sich wieder gefangen hatte und umso fester zudrückte. Und ehe Mo wusste, was sie tat, krampfte sie all ihre Kraft zusammen, presste die Luft aus ihren Lungen und schrie in Todesangst einen Namen.
*
Der Schrei brachte Jay zum Straucheln. Er dachte keinen Moment daran, dass es Ivy sein könnte. Unter hundert Stimmen hätte er das Mondmädchen erkannt. Sie rangen miteinander. Ivy hatte das Mädchen böse im Schwitzkasten, aber sein verzweifelter Hilferuf löste sich wie ein eigenes Wesen, erhob sich und breitete sich vibrierend aus. Er setzte sich fort, fegte den Nebel zu den Ufern und kräuselte die Oberfläche des Flusses. Erst jetzt bekam der schrille Laut Klang und Silben und formte sich zu einem Namen. Jay wurde noch kälter . Sie hat Wendigo gerufen! Um ihn herum holte der Wind
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