Zweilicht
der Fessel hatte sich wie eine Fallenschlinge um Ivys Fußknöchel festgezurrt und riss sie mit sich, während das Stahlseil im Wind tanzte und schwang. Fieberhaft versuchte sie, sich zu befreien. Ihr Schrei brach jäh ab, als der Pfeiler zur Seite ruckte und sie nach oben katapultiert wurde. Im nächsten Moment hing sie reglos über dem Abgrund wie ein bewusstloser Bungee-Jumper. Tu was!, schrie es in Jay . Und dennoch erkannte er mit grausamer Klarheit, dass er im Augenblick gar nichts tun konnte außer … am Leben bleiben. Sie da runterholen, irgendwie! Knirschend senkte sich die Brücke und begann immer schneller zu kippen. Instinktiv suchte Jay die Balance, sprang über sich biegendes Metall, wich Seilen aus und lief bergauf, immer bergauf, bis er plötzlich Stein unter den Fingern hatte. Er war am Außenrand des Brückenpfeilers angelangt. Die Schere zwischen Eis und Stein wurde unten immer schmaler. Gleichzeitig senkte sich der Pfeiler weiter, schon jetzt bildete seine Außenseite eine Schräge, die wenigstens ein wenig Halt bot. Jay schwang sich auf die Brüstung, balancierte über den Vorsprung und begann zum oberen Rand des Pfeilers zu klettern.
*
Jay hatte dieselbe Idee gehabt wie sie. Mo sah zu, wie er sich nach oben kämpfte, aber er blickte gar nicht zu ihr hoch, sondern kletterte am Rand und hielt Ausschau nach etwas, das hinter der Brücke passierte. Sorge und Verzweiflung verzerrten seine Züge. Mo riss sich von seinem Anblick los und starrte das Eis an. Ihr kraftloser Sichelmond hing am Himmel, und sie spürte, wie ihre Magie sich nur noch hielt, nicht länger wuchs. Der Wind, den sie dem Eis so verzweifelt entgegenschickte, prallte daran ab und trug Gischt bis zu ihr hinauf. Mit der Gischt kam das Eis. Schräge Eiszapfen glitzerten bereits wie ein bizarrer Schmuck an Seilen und rostigen Trümmern. Das gefrorene Meer schob sich unter der Brücke hindurch, kroch unbeirrt an den Pfeilern hoch, war Jay auf der Spur wie ein beharrliches Raubtier, das noch seine Kräfte sparte. Und je näher es auch Mo kam, desto mehr begriff sie, dass sie sich verraten hatte. Er wird mich nicht verschonen, er weiß es , dachte sie voller Entsetzen. Er weiß, dass ich Jay vor ihm verstecken wollte . Am liebsten hätte sie sich in ihre richtige Gestalt verkrochen, aber sie wagte es nicht, denn nur mit den Menschenhänden konnte sie sich an der steilen Schräge festklammern. Vor ihr fing sich das Mondlicht in transparenten Bruchkanten. Jedes Härchen an ihrem Arm sträubte sich, als sie die Bewegung sah. Körper, gefangen wie hinter Glas! Dort war ein Mondmädchen! Sie wand sich hinter dem Eis, den Mund vor Grauen weit aufgerissen. Mitleid schnitt Mo ins Herz, als das andere Mondmädchen sich krümmte. Eis überzog ihre Lippen und ihre Lider, zog alle Farbe aus ihrer Haut, bis sie bläulich wurde und Risse bekam. Es war dasselbe Bild wie das aus dem Traum des blonden Mädchens. Nur dass der Traum aus purer Angst geboren wurde, und das hier real war. Oder sind die Albträume die Wahrheit? Im Schrei erstarrende Lippen formten Worte, die Mo nicht hörte, aber dennoch verstand. Die blaue Haut des gefangenen Mondmädchens überzog sich mit Frost und wurde schwarz, das Leben zerbrach. Aber das Mädchen rief immer noch und suchte mit toten Händen nach einem Ausgang. Andere Gesichter schimmerten im Eis, Mondmädchen, Menschen, Tiere. Die Verzweiflung aller lebenden und toten Wesen , hallten die Worte der Ältesten ihr im Ohr. Und plötzlich entdeckte sie auch den Mann, den das Mädchen Cael und Bruder genannt hatte – und auch den anderen namens Yamal. Das Heulen der Brücke wurde zu Menschenstimmen, ein Chor von Leid. Mo zitterte am ganzen Körper, das Schluchzen brach aus ihr heraus und wollte nicht aufhören. Ich habe ihn gerufen – damit er Menschen verschlingt. Aber so sehr hasse ich keinen Menschen . So sehr kann niemand hassen!
*
Hinter ihm schob sich das Eis heran, er konnte die Kälte fühlen, die näher kam. Die Steigung wurde flacher, je weiter der Pfeiler kippte. Keuchend stieß Jay sich ab und hetzte weiter. Er war fast an der oberen Kante angelangt. Und dort war er nicht allein. Als er den Blick hob, sah er das Mondmädchen. Sie kauerte da oben, als würde sie auf ihn warten. Jack trifft Rose, ganz oben auf dem Heck der sinkenden Titanic , fuhr es ihm durch den Kopf. Nur dass wir kein Liebespaar sind. Ganz im Gegenteil. Fast erwartete er, dass sie nach ihm treten würde, um ihn zu Wendigo hinunterzustoßen,
Weitere Kostenlose Bücher