Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
Vom Netzwerk:
mehr wir uns wehren, desto schneller rücken die Wände zusammen!«
    Erschrocken hielt sie inne, nur ihr keuchender Atem hallte an seinem Ohr.
    »Was ist das?«, presste sie hervor. »Wo sind wir?«
    »In Wendigos Herz«, antwortete er heiser. »Glaube ich.«
    Und die Wahrheit ist, wir sind Fliegen, eingeschlossen in einen riesigen Tropfen aus indigoblauem Bernstein. Wir werden so lange zappeln, bis wir hier drin erstarren.
    Jetzt hätte er am liebsten geschrien und gegen die Wände getreten. Aber er verharrte, als direkt neben ihm eine schwarze, verdorrte Hand entlangtastete – von ihm durch Eis getrennt wie durch eine leicht mattierte Glasscheibe, aber so nah, dass er jede Einzelheit erkannte. Dann presste sich ein Gesicht gegen das Glas, ein aufgerissener Mund schrie stumm Angst und Schmerz heraus und verlosch, andere Grimassen leuchteten auf, als wären neben, über und unter ihnen unzählige Menschen gefangen, so wie sie beide. Mit einem Unterschied.
    Wir leben .
    »Er hält sie alle gefangen«, flüsterte das Mondmädchen. »Er fängt sie und tötet sie, aber endgültig sterben lässt er sie nicht! Jeden, den er verschlingt, hält er fest. Wir werden so sterben wie sie und dann werden wir in alle Ewigkeit leiden und nach einem Ausgang suchen.« Ihre Arme umklammerten ihn noch stärker, und er fragte sich, warum sie immer noch warm und lebendig war, während sein Blut bereits erstarrte und er seine Lippen kaum noch bewegen konnte. »Ich wollte das nicht!«, rief sie und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Und er konnte nichts tun, als sie festzuhalten und voller Entsetzen und wie hypnotisiert hinzusehen. Neue Gesichter tauchten auf. Nicht nur menschliche waren es, er sah auch die großen Augen von anderen Mondmädchen, und Männer und Kinder und Mädchen und Frauen, deren schwarze Haut und leere Augen sie einander erstaunlich ähnlich machten. Und dann entdeckte er jemanden, den er nur zu gut kannte. Robin! Er krampfte die Arme um das Mondmädchen, klammerte sich an sie, als könnte ihm jetzt noch irgendetwas Halt geben.
    Sein Vater war nicht der junge Mann von Matts Foto oder der Fremde mit dem dröhnenden Lachen, den Jay als Zehnjährigen zum ersten und letzten Mal gesehen hatte. Das hier war der ältere Robin Zweiherz, verlebt, mit Tränensäcken unter den Augen. Die Stirn und Schläfen tätowiert mit wirren Symbolen. Die Trauer um seinen verrückten Vater krampfte Jay das Herz zusammen. Und das Schlimmste war, dass Robin gar nicht so verrückt gewesen war. Du hast es tatsächlich geahnt. Und ich habe deine Warnungen auf den Postkarten nicht verstanden. Du hast allein gekämpft. Er konnte die Szene fast vor sich sehen: Robin auf seinem Motorrad, mitten in den Bergen, wo trotz des Frühlings ein Blizzard tobte. Robin gab Gas und sprang mit dem Motorrad, ein Kojotenfell um die Schultern gebunden, die Tätowierungen eine Kriegsbemalung, einen Kampfschrei auf den Lippen. So hoffte er einen Dämon zu besiegen, der gerade erst dabei war, sich aus der Kälte zu befreien, ein Vorbote der Macht, die sich wenige Monate später erheben und fast die ganze Menschheit in den Todesschlaf reißen würde.
    »Ist das dein Vater?«, flüsterte das Mondmädchen und erinnerte ihn daran, dass sie immer noch ihre Welt und ihre Erinnerungen teilten.
    »Ja, das ist er.« Mitleid durchflutete ihn wie ein wärmerer Schauer. Warst du sein erstes Opfer?
    Das Gesicht war direkt neben ihm, und er betrachtete die Tätowierungen, die auf der schwarzen Stirn wie blaue Geheimschrift leuchteten. Und es war wirklich eine Geheimschrift, kryptische Zeichen, die keinen Sinn ergaben. Als der Mund zu einem stummen Schrei aufklappte, wandte Jay den Blick ab – was nicht viel nützte, denn Robin spiegelte sich auch links von ihm. Spiegel , fuhr es Jay durch den Kopf. Und jetzt sah er. Robin hatte sich die Worte selbst vor dem Spiegel eintätowiert, sodass er sie lesen konnte. Allerdings hatte er von rechts nach links geschrieben. Trotzdem erkannte Jay das untere Wort auf den ersten Blick. Wendigo. Das obere kam ihm auch bekannt vor. ERAE .
    »Das Codewort ist ERAE . Und W wie Wendigo.« Auch ein Satz von der Postkarte. Er entdeckte ein zweites W an Robins Schläfe – und plötzlich ergab es einen Sinn.
    »We are Wendigo.« Er sprach es aus. Seine Stimme war nur noch ein Krächzen. Husten gelang schon längst nicht mehr. Das Mondmädchen sah ihn besorgt an. Er erhaschte einen Blick auf sich selbst und das Mondmädchen, auch eine Spiegelung, die

Weitere Kostenlose Bücher