Zweilicht
Wolkeninsel nannte. Denn hier oben, fast an der Spitze der Ruine, hatten Jay und sie sich ein besonderes Lager gebaut – es hing an Seilen und schaukelte im Wind, Planen schützten es vor Kälte, Regen und Wind, und sie schliefen unter Decken aus Jays Zeit, die so warm waren, dass man sogar im Schnee nicht erfror. Ivy liebte es, morgens die Augen zu öffnen – noch immer konnte sie es nicht fassen, dass sie dann als Erstes den Sonnenaufgang sah.
Nun aber war es Abend, ein blasser Vollmond stand bereits am Himmel.
»Kommst du?«, fragte Jay. Sie nickte und kletterte zu ihm auf ihre schaukelnde Insel. Eng umschlungen betrachteten sie den Himmel. Sein Arm lag um ihren Nacken, zärtlich spielten seine Finger mit ihrem Haar.
»Manche nennen den Vollmond das Fuchslicht«, sagte Ivy. »Weil er an das leuchtende Auge eines Fuchses erinnert.«
»Fühlst du dich beobachtet?«
»Heute ja«, erwiderte sie mit einem leichten Unbehagen. »Ich mag den Vollmond nicht. Manchmal denke ich, ich spüre, wie sie wieder nach dir sucht.«
Jay streckte die Hand aus und stieß sich an einem Stahlträger ab. Ihre Wolkeninsel begann zu schwingen, sanft pendelte der Mond über ihnen hin und her.
»Es ist schon komisch, dass ein so unscheinbares, kleines Tier wie ein Fuchs die stärkste Magie von allen besitzt«, sagte Jay.
»Die alten Märchen aus einem ganz fremden Land wussten es schon lange«, antwortete Ivy. »Ich bin nur nicht draufgekommen, weil ich nicht wusste, dass Kitsune in unserer Sprache einfach nur Fuchs heißt. Die Kitsune verführen gerne Menschen, sie können Illusionen erschaffen – und sogar Feuer entstehen lassen.«
»Ja, das konnte sie«, murmelte er. Sofort wünschte sie, sie hätte Jay die Geschichte nicht erzählt, denn jetzt betrachtete er versonnen den Mond und lächelte in seinen ganz eigenen Erinnerungen verloren.
Ivy stieß ihn leicht in die Seite. »Hör auf damit! Erzähl mir lieber eine Geschichte – eine von denen, die nur uns beiden gehört.«
*
Wie immer, wenn der Mond voll war, war sein Schlaf so tief, als würde er nicht mehr atmen. Nur manchmal zuckten seine Mundwinkel, aber ob es ein Lächeln war oder ob er davon träumte, mit ihr zu sprechen, wusste Ivy nie. Sie kuschelte sich noch dichter an ihn, legte den Kopf auf seinen Oberarm und betrachtete sein schlafendes Gesicht. In Nächten wie diesen, in denen sie spürte, dass die Trugwelt immer noch nach ihm griff, schlief sie nie, sondern erinnerte ihn daran, wohin er gehörte.
»Leon«, flüsterte sie in sein Ohr. »Wach auf!«
Seine Lieder zuckten, doch bevor er die Augen öffnete, glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
»Du bist wieder wach geblieben, stimmt’s?«
»Klar, ich passe auf dich auf. Hast du von ihr geträumt?«
Jay gähnte und streckte sich. »Nein. Ich weiß, sie beobachtet mich, aber ich sehe sie nie im Traum. Ich sehe nur unsere Welt.«
Unsere Welt. Es sollte ihr nichts ausmachen, aber dennoch verspürte sie auch heute einen leisen, feinen Stich des Ärgers.
»Komm nur nicht auf die Idee, auch nur einen Zeh in diese Welt zu strecken!«
»Immer noch eifersüchtig?«, fragte er sanft.
»Ganz bestimmt nicht«, log sie. »Nur besorgt um dich. Ich hätte dich schon einmal fast verloren, schon vergessen?«
Er lachte sie auch heute nicht aus. Eine Weile sahen sie sich in die Augen, dann zog er sie an sich und küsste ihre Stirn, ihre Lider und ihren Mund.
»Tut es dir wirklich nie leid, die Trugwelt verlassen zu haben?«, wollte Ivy wissen.
Sein Lachen entfachte wieder die kleine Flamme in ihrem Herzen, die jeden Ärger verzehrte. »Sehe ich so aus, als würde ich hier nicht glücklich sein?«, rief er. Stürmisch zog er sie an sich und drückte sie so fest, bis sie lachend nach Luft rang und die Stadt um sie herum schaukelnd tanzte.
»Nein, Ivy«, sagte er dann zärtlich. »Ich bereue es nicht, keinen Tag, keine Stunde – und nichts von dem, was passiert ist. Es hat mich zu dir gebracht!«
Seine Hand strich über ihren Rücken, wanderte zu ihrer Hüfte. Kuss um Kuss weckte er sanft das Begehren, bis der Sog sie beide mit sich nahm in eine Welt, die nur ihnen beiden gehörte. Und als sie viel später wieder auftauchten, war der Mond weitergewandert und beobachtete sie nicht mehr. »Mailin«, flüsterte Jay in ihr Haar. »Meine Mailin!«
Jay hat recht , dachte Ivy, während sie glücklich in seinen Armen einschlief. Es wird ein guter Sommer. Und dann sehen wir weiter. Von Tag zu Tag.
sonne und mond
m anchmal
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