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Zweilicht

Zweilicht

Titel: Zweilicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blazon Nina
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als zuvor und seine Bewegungen geschmeidiger, flinker. Wenn er mit Beren unterwegs war, hatten sie etwas von Brüdern – sogar ihr Lachen ähnelte sich ein bisschen. Aber er war auch ernster, schweigsamer, und im Schlaf hatte sein Gesicht nicht mehr oft den traumvergessenen Ausdruck, der von schönen Träumen zeugte. Dieser Jay hier war erwachsen geworden, und obwohl er sich nicht beklagte, ahnte Ivy oft genug, wie sehr ihm seine Welt immer noch fehlte. Nur manchmal erzählte ein schmerzlicher Zug um seinen Mund von seinen Verlusten. Und damit gehört er ganz und gar zu uns , dachte sie. Wir verlieren alle – aber was wir gewinnen, ist umso kostbarer.
    Als hätte er diesen Gedanken gehört, lächelte er ihr zu, und seine hellgrünen Augen, die an Bachwasser im Frühling erinnerten, blitzten. Bevor sie das Museum verließen, zog er sie an sich und küsste sie. Immer noch war da dieser kleine Impuls zurückzuzucken, eine Ahnung von Gefahr, aber dann entspannte sie sich und ließ sich ganz in den Empfindungen treiben. Es bringt kein Unglück mehr. Und sie lächelte in diesem Kuss und genoss das Gefühl, dass tief in ihrer Brust eine Sonne aufging. Eng umschlungen gingen sie zur Tür und blickten noch einmal zu den Schläfern zurück.
    »Glaubst du, wir werden sie irgendwann einmal kennenlernen?«, fragte Ivy.
    Ihre Stimme hallte ein wenig, jetzt, da der Staub sie nicht mehr dämpfte.
    »Ich hoffe es«, erwiderte Jay. »Ich bin sicher, das Mondmädchen beobachtet uns. Wer weiß – vielleicht versucht sie es eines Tages ja noch einmal mit uns Menschen.«
    »Ich weiß nicht, ob ich es mir wünschen soll oder nicht.«
    Jay lachte. »Du traust ihr immer noch nicht.«
    »Ebenso wenig wie deinem Kojoten. Nicht umsonst haben wir unsere neuen Namen behalten. Magische Wesen sind launischer, als du denkst, und gehorchen nur ihren eigenen Gesetzen, auch wenn sie im Moment mit uns Frieden geschlossen haben. Lass dich nicht zu sehr täuschen. Im Augenblick ist alles im Gleichgewicht, aber wer weiß, wie lange es so bleibt.«
    »Zumindest wird es ein guter Sommer«, erwiderte Jay leichthin und schloss die Tür des Museums so behutsam, als wollte er die Schlafenden nicht wecken. »Und dann sehen wir weiter – von Tag zu Tag.«
    Die Kinder kamen angelaufen und umringten sie, zupften an seiner Jacke und wollten auf seinen Rücken klettern. Lachend wehrte Jay die Bande ab, aber sie folgte ihnen bis zum ehemaligen Broadway. Feixend und Kussgeräusche machend, liefen die Kinder ihnen hinterher, bis es ihnen zu langweilig wurde, ein Liebespaar zu ärgern, das sich nicht von ihnen beeindrucken ließ.
    Zu zweit gingen sie weiter, auf den hellsten Wegen, die sie finden konnten, um kein bisschen Licht zu verpassen.
    Ivy ließ ihren Blick über die Ruinen schweifen. Schneereste kauerten sich noch in die Schatten, aber dort, wo die Frühlingssonne auf Zweige und Ranken traf, sprossen schon Knospen und Blätter. Der Frühling füllte den Himmel mit dem Duft nach Sumpfgrün und frischen Wolken. Wind spielte mit ihrem Haar. Es war nicht mehr trauerkurz, und wenn sie ihre Hände betrachtete, wunderte sie sich jedes Mal, dass ihre Haut schon von der Wintersonne ein wenig Farbe bekommen hatte.
    Den Wolkenkratzer, der ihre Schlafstätte geworden war, nannte Jay immer noch bei seinem alten Namen – »Top of the Rock«. Es war jeden Abend eine mühsame Klettertour über alte Treppen, Seilleitern und ein Stück Baum, der durch die Etagen bis in den zwanzigsten Stock wuchs. Und sie dauerte lange, da Jay immer noch nicht die instinktive Sicherheit eines geübten Kletterers hatte und Ivy wegen ihrer Verletzung am Bein, die gerade erst verheilt war, vorsichtig sein musste und nur langsam vorankam.
    Aber immer wenn sie atemlos bei ihrem Nachtlager ankamen, wurden sie vom orange glühenden Licht der Abendsonne belohnt – und mit einem Ausblick, der Ivy jedes Mal von Neuem den Atem nahm. Unter ihnen lag ihre Insel in der blaugrünen Umarmung der Meerenge und des Flusses. In manchen Ruinen blinzelte Licht – die Kolonisten lebten über die ganze Stadt verstreut, zerfielen in Clans, kleine Gruppen und Paare, als müssten sie unzählige Nächte ohne die Enge eines lichtlosen Lagers aufholen. Nur tagsüber fanden sie sich zusammen, um die Stadt zu durchstreifen, um zu sammeln und aus den Trümmern der alten Welt eine neue zu schaffen. Unsere Welt hätte dir gefallen, Cael , dachte Ivy. Sie seufzte und erklomm ihren Schlafplatz, den sie insgeheim nur

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