Zweilicht
kam es Mo so vor,: als würde Coy die Menschengestalt hervorholen und mit sich herumtragen wie einen Lieblingsknochen, an dem er bei jeder Gelegenheit herumnagte. Er wartete schon auf sie, aber wie immer gab er sich alle Mühe, seine Ungeduld zu überspielen. In betont lässiger Pose saß er auf der Museumstreppe, die langen Beine ausgestreckt, die Ellenbogen auf die Stufe hinter ihm gestützt und grinste ihr unter schwarzen Haarsträhnen entgegen.
Und wie immer ließ sie sich provozierend viel Zeit, damit er bis zuletzt im Ungewissen blieb, ob sie auch diesmal einfach wieder verschwinden würde.
Doch heute blieb sie, zum ersten Mal. Fünf Stufen von ihm entfernt verharrte sie und setzte sich, und Coy war schlau genug, sie nicht zu drängen und nicht anzusprechen.
Eine Weile betrachteten sie nur den Fluss. Ihr Mond tauchte alles in weiches Licht und spiegelte sich im Wasser. Legte sie den Kopf schief, war es fast, als würde Cinna sie aus Fuchsaugen betrachten. In Nächten wie diesen vermisste sie ihre Schwester mehr denn je.
»Wie geht es ihm?«, fragte sie nach einer Weile. »Ist er glücklich?«
»So glücklich, wie ein Mensch es eben sein kann«, erwiderte Coy. »Anscheinend sind sie am glücklichsten, wenn sie sich so oft wie möglich in die Haare geraten. Er und die Blonde sind selten einer Meinung, aber das scheint ihnen nicht viel auszumachen.«
»Vielleicht sind sie sich einfach zu ähnlich.«
»Sie sind Menschen, sie wissen es nicht besser«, sagte Coy mit wohlwollender Arroganz. »Er hat übrigens auch nach dir gefragt.«
Sie vermisste das freudige Erschrecken, das sie früher beim Gedanken an Jay verspürt hatte. Jetzt war es eher ein schwebendes Hinnehmen. Kein Hass. Keine Liebe . Aber gleichgültig ist er mir auch nicht. Im Gegenteil.
»Er hat mich also nicht vergessen.«
»Nein, das wird er nie und das weißt du auch genau. Ihr seid verbunden wie Sonne und Mond. Ihr könnt nur nicht zur selben Zeit am Himmel stehen.«
»Manchmal schon«, erwiderte sie verschmitzt. »Weißt du noch? Damals, als ich zu ihm auf das Dach geklettert bin?«
Coy lachte. »Streckt das Mondfieber schon wieder seine fahlen Finger nach dir aus?«, spottete er. Er stand auf und ging so langsam und betont gelangweilt die Treppe hinauf, als würde er nur schlendern. »Oh, hast du den Neuen schon gesehen?«, warf er beiläufig über die Schulter zurück. »Er sieht nach mächtig viel Unruhe aus! Tom war schon sauer, weil Faye ihn so gern betrachtet. Im Schlafen Eifersucht zu wecken, ist schon ein Kunststück, meinst du nicht?«
»Du kannst es wohl gar nicht erwarten, wieder ein bisschen Mondmagie zu schmecken?«, rief sie ihm spöttisch hinterher. »Was ist los? Zu wenig Chaos in deinem wundervollen neuen Leben mit den Menschen?«
»Könnte ein bisschen mehr Wirbel sein, ja«, gab Coy mit einem tiefen Seufzen zu. »Und du verpasst was, wenn du jetzt wieder verschwindest. Ich wette, er gefällt dir besser als Jay.«
Mit einem Grinsen öffnete er die Tür und verschwand im Museum. Und natürlich hatte er es jetzt doch geschafft, sie neugierig zu machen. Zögernd stand sie auf und folgte ihm, Stufe für Stufe. Die Tür stand offen, schon jetzt konnte sie das Flüstern der Träume hören. Noch eine Weile versuchte sie zu widerstehen, aber schließlich trat sie über die Schwelle. Es war ungewohnt, nach so langer Zeit wieder ein Menschenhaus zu betreten. Erwartung lag in der Luft und selbst hier drin roch der Frühling nach Verheißungen.
Auf Zehenspitzen näherte sie sich den Schlafenden.
Coy stand mit leuchtenden Augen neben dem ersten Lager. »Hier, der ist es!«
Sie wusste auf den ersten Blick, was er meinte. Der junge Mann war auf eine andere, betörendere Weise schön als Jay. Sein dunkelbraunes kurzes Haar erinnerte an Otterfell, die vollen Lippen lockten in einem Gesicht mit klaren Zügen. Und dennoch spiegelte sich etwas Ironisches, Arrogantes darin, das dem jungen Mann etwas sehr Anziehendes verlieh. Mo spürte, dass allein sein Anblick die Frauen magisch anzog.
»Jay und die Papierfrau haben ihn erst vor einer Woche gefunden«, erklärte Coy. Und dann war er klug genug, zu schweigen und Mo ihren eigenen Gedanken zu überlassen.
Für eine Weile schloss sie die Augen und fing die Wörter ein, die von dem schlafenden Gesicht aufstiegen wie Funken aus einem sehr heißen Feuer. Hospital. Neue Stelle. Kollegen. »Er ist ein ›Arzt‹«, murmelte sie. »Er heilt Menschen, er ist ernsthaft am Tag, sehr darum
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