Zweyer, Jan - Rainer
sich seiner Jacke.
Dann öffnete Brähmig den rechten Schrank und sagte zu Rainer: »Hier sind unsere Unterlagen.« Er griff sich den ersten Leitzordner mit grünem Rücken. »Fotos. Von Erin und Teutoburgia. Alle aus der Vorkriegszeit.« Er blätterte die Bilder durch und zeigte sie Esch. »Das ist die Lohnhalle von Erin. Beeindruckend, nicht? Ach, und hier. Teutoburgia Schacht 1 und 2. Steht heute auch nur noch einer.«
Rainer sah nur kurz hin.
»In den Ordnern mit dem gelben Rücken sammeln wir Artikel aus den Tageszeitungen, aus Zeitschriften und so weiter. Sind auch Festschriften drin.« Brähmig baute die fünf Ordner vor Esch auf.
»Tageszeitungen?«, erkundigte sich Rainer. »Auch mit Bildern?«
»Natürlich. Und der hier, da sind die Interviews, die wir mit ehemaligen Kumpeln von Erin geführt haben. Sind leider noch nicht sehr viele«, entschuldigte sich Theo Brähmig für die minimale Ausbeute. »Das ist schon alles, was von der Geschichte eines Bergwerkes übrig geblieben ist. Das heißt, alles, was wir bisher gefunden haben. Was suchen Sie eigentlich genau? Vielleicht können wir Ihnen helfen.«
Für einen Moment erwog Rainer, den beiden reinen Wein einzuschenken, beließ es dann aber bei dem Gedanken. »Das weiß ich selbst noch nicht wirklich. Kann ich mir die Ordner in Ruhe ansehen?«
»Sicher, deswegen sind wir ja hier. Aber Hans und ich müssen doch nicht dabei bleiben?«
»Nee, nicht nötig.«
»Gut. Wenn Sie fertig sind, legen Sie die Unterlagen bitte zurück in den Schrank und schließen ab. Wir warten oben im Lesezimmer.« Die beiden Rentner verschwanden und ließen Rainer mit sieben DIN-A4-Ordnern allein.
Esch begann mit der Fotosammlung, die aus Originalen und Zeitungsbildern bestand. Nach zehn Minuten kannte er Erin und Teutoburgia aus allen vier Himmelsrichtungen, nach weiteren fünf auch die wichtigsten Einrichtungen des Bergwerkes von innen. Aber er sah kein Bild, auf das die Beschreibung Rastevkows zutraf. Frustriert stellte er den Ordner wieder zurück.
Rainer griff zu den Ordnern mit den gelben Rücken. Er fand zahlreiche Artikel über die Schließung des Pütts 1983, über die Verlegung der Kumpel zu anderen Bergwerken des Eschweiler Bergwerkvereins und der Ruhrkohle AG, einen ausführlichen Bericht über den ersten mannlosen Steilstreb im Ruhrgebiet 1964, mehrere Festschriften zum 100-jährigen Bestehen, aber keinen Hinweis auf die Ereignisse in den letzten Kriegstagen.
Auch die Gesprächsprotokolle, die Brähmig, Pawlitsch und die anderen über die Interviews mit ihren früheren Kollegen geführt hatten, gaben nicht viel her. Zwar erinnerte sich der eine oder andere Bergmann an die letzten Tage der nationalsozialistischen Diktatur und den Einmarsch der alliierten Truppen im Frühjahr ‘45, aber keiner erwähnte mit einem Wort den Vorarbeiter Jupp, die beiden Zwangsarbeiter oder gar den Nazimörder. So kam Rainer nicht weiter. Er packte die gesammelten Werke der Hobbyhistoriker in den Schrank und schloss ab.
»Gibt es noch weitere Unterlagen?«, fragte Rainer die wartenden Freunde von Pawlitsch, als er ihnen den Schlüssel wieder aushändigte.
»Hasse nix gefunden?«, erkundigte sich Hans Rundolli interessiert.
»Leider nicht.«
»Schade. Nee, nich dat ich wüsste. Oder watte ma. Wat meinsse, Theo, der Georg hat da doch immer in dat kleine Buch wat reingeschrieben, watter ständig mit sich rumgeschleppt hat.«
»Stimmt. Sein Notizbuch. Das müsste Paula haben.«
»Können wir…«
»Klar. Kommen Sie, Herr Esch. Es ist nicht weit.«
Doch Paula Pawlitsch konnte ihnen nicht weiterhelfen. Trotz gründlicher Suche blieb das Notizbuch verschwunden.
26
Die Eheleute Störmer hatten sich vor einiger Zeit entschieden, eine Haushaltshilfe einzustellen. Hilde hieß die gute Seele der Recklinghäuser Paulusstraße. Sie kam normalerweise immer montags, um den alten Leuten etwas zur Hand zu gehen. Nur am gestrigen Montag hatte sie andere Verpflichtungen gehabt.
Sie war im Kindergarten ihrer Gemeinde als Ersatznikolaus für die versprochene Feier eingesprungen, da sich der ursprünglich vorgesehene Weihnachtsmann am Vorabend das Fersenbein gebrochen hatte und für Monate außer Gefecht gesetzt worden war. Deshalb hatte Hilde noch am Sonntagabend mit Störmers vereinbart, ihren Putzeinsatz auf Dienstag zu verschieben.
Als Hilde morgens gegen acht versuchte, mit dem ihr überlassenen Wohnungsschlüssel die Tür aufzuschließen, musste sie feststellen, dass von innen ein
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