Zwielichtlande
sie jetzt zum Eröffnungsabend kommt.«
Annabellas Schritte hallten auf dem Bürgersteig. Ein Schauer lief ihren Rücken hinunter, die Haare in ihrem Nacken richteten sich auf, und ihr Herz schlug heftig und trieb sie zu einem schnellen Schritt. Sie versuchte, das bedrückende Gefühl zu verdrängen, dass sie jemand verfolgte, blickte aber dennoch über ihre Schulter zurück.
Hinter ihr sah sie nichts als einen Haufen Schatten und einen Block weiter einen Fußgänger.
»Annabella?«
Oh. Bruder. Freundin. Karte. Richtig. »Glaubst du, dass er stattdessen noch einmal um ihre Hand anhält?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung.« Ihre Mutter hielt inne. »Wieso bist du so außer Atem?«
»Ich bin auf dem Heimweg.« Sie blickte über die Straße und blieb so abrupt stehen, dass sie beinahe das Gleichgewicht verlor.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schlich ein Schatten. Nichts als ein Schatten, Schwarz auf Schwarz, und wenn sie blinzelte, verlor sie ihn leicht aus dem Blick.
»Es ist schon spät, Bell.« Ihre Mutter klang besorgt. »Nimm dir ein Taxi. Auf meine Rechnung.«
»Das würde ich tun, aber ich sehe keins.« Sie hielt den Blick auf die vielschichtige Dunkelheit gerichtet, wie versteinert wartete ihr Körper auf die nächste Bewegung. Alles um sie herum schien sich kaum merklich zu verändern. Die Gebäude, die Straßenlaternen, die Abfalleimer aus Metall. Sie drehte völlig durch.
»Liebling, was ist los?«
»Nichts. Es ist albern. Ich habe bei der Probe gepatzt.« Aber da sie ihrer Mutter alles erzählen konnte, fügte sie hinzu: »Und ich glaube, ich werde verfolgt.«
»Was?« Ihre Mutter sprach lauter. »Wo bist du? Kannst du dich irgendwo in Sicherheit bringen?«
Verdammt. Jetzt war ihre Mutter besorgt. »Es ist nur ein Hund, Mom. Ein Hund läuft mir hinterher.«
»Geh irgendwo hinein.«
»Die Geschäfte haben geschlossen. Ich warte auf den Bus.« Die nächste Haltestelle lag nicht einmal einen Viertel Block weit entfernt. Dort erwartete sie eine beleuchtete Bank, und es gab keine Schatten. Annabella lief darauf zu.
»Kannst du dort jemanden um Hilfe bitten?«
Sie blickte sich um. Es war niemand mehr zu sehen. Seltsam. So spät war es noch nicht. »Nicht wirklich.«
»Wieso bist du mitten in New York City ganz allein?«, fragte ihre Mutter.
»Mir geht es gut, Mom. Mach dir keine Sorgen. Der … Hund bleibt auf der anderen Straßenseite.«
Noch während sie sprach, bildete sich aus den Schatten erneut die Gestalt eines schwarzen Wolfs, seine Augen leuchteten in dem pechschwarzen, dreieckigen Gesicht.
Das musste aufhören. Sie musste sich unbedingt beruhigen.
Sie ließ sich auf die Bank fallen und schloss die Augen, ihr Körper bebte. Da ist nichts. Nur ein Produkt deiner Fantasie. Ein Teil von ihr schrie Gefahr, w ährend der Rest von ihr zuversichtlich war. Sie drehte nicht durch, nicht jetzt. Sie konnten sie gern in eine psychiatrische Anstalt einweisen, aber bitte erst nach der Gala.
»Annabella?«
Als sie die Augen öffnete, bewegte sich der Wolf langsam über die Straße auf sie zu. Mit gesenktem Kopf und angelegten Ohren bahnte er sich einen Weg durch die dunklen Schatten zu ihr. Er knurrte leise und bedrohlich, seine gefährlichen gelben Augen auf sie gerichtet.
»Mom, ich habe Angst.« Sie klang wie drei und nicht wie dreiundzwanzig, aber das war ihr egal. Sie krabbelte nach oben und setzte sich auf die Rückenlehne der Bank. Das Blut pochte in ihren Ohren, und sie klammerte sich an das Telefon wie an eine Rettungsleine. Langsam entspannte sich ihr Körper leicht, und sie wusste, dass sie notfalls rennen konnte, auch wenn sie noch so müde war.
»Ich verständige auf der anderen Leitung die Polizei.«
Annabella traten Tränen in die Augen, als sie die Not in der Stimme ihrer Mutter vernahm. Sie hätte nicht zu Hause anrufen, ihre Mutter nicht mit hineinziehen dürfen. Der Wolf überquerte die Mittellinie, und sie begann zu zittern. Ihre Ohren rauschten. Das passiert nicht wirklich. Das kann überhaupt nicht sein.
»Alles wird gut, Liebling.« In Gedanken stieß ihre Mutter mit Sicherheit ein Stoßgebet aus. »Wo ist der Hund jetzt?«
»Er ist … « Angst erstickte ihre Stimme. Der Wolf trottete weiter auf sie zu, ohne dass seine Tatzen ein Geräusch auf dem Asphalt erzeugten. Als er näher kam, bemerkte sie, dass sein schwarzes Fell nicht schwarz war, sondern ihm lediglich die Farbe fehlte. Wie ein Albtraum war das Wesen nicht gegenständlich, doch sie spürte
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