Zwielichtlande
Schattenmann wütend in Richtung Mauer, seine Stimme tönte voll, tief und gebrochen. Sein Zorn ließ das Tor erbeben und die Farbe der Mauer dunkel werden.
Endlich suchte er sie, die Frau, die den Tod dazu verführt hatte, sich zu verlieben. Wieso jetzt, nach all der Zeit? War auf der Erde etwas geschehen?
Custo musste nach Hause. Die Unwissenheit quälte ihn.
»Kathleen!«, rief der Tod wieder, lauter und entschiedener diesmal. Trotzig ballte er die freie Hand an seiner Seite zur Faust; mit der anderen umklammerte er den Griff seiner Sense, seine Knöchel waren schwarz gesprenkelt. Er neigte den Körper, als stemmte er sich gegen einen brutalen, heftigen Wind. Ein Gesetz des Himmels, eines von Gott weiß wie vielen, verbot den Bewohnern der Zwielichtlande, sich in den Mauern aufzuhalten.
Vielleicht …
Custo versuchte, mit seinem Geist die verlorene Liebe des Todes zu finden. Vielleicht konnte er mit dem Herrscher der Zwielichtlande ein Geschäft machen, wenn er ihm einen Gefallen tat. Custo warf seinen Geist aus wie ein Netz, kam jedoch ohne Fang zurück. Er versuchte es noch einmal und durchsiebte alles mit größerer Sorgfalt. Nichts. Verdammt.
Kathleen war nicht im Himmel.
»Kathleen!« Der Tod warf die Sense ins Wasser, als würde er jede weitere Zusammenarbeit mit dem Göttlichen verweigern. Das Licht des Himmels riss seinen Umhang in Streifen.
In Custos Kopf reifte ein Entschluss heran. Auch für ihn war der Himmel nicht der richtige Ort.
»He!«, rief er von der Mauer herab.
Der Schattenmann sah nach oben. Seine vollkommen schwarzen Augen strahlten Macht aus.
»Ich tausche mit dir«, bot Custo an. War so etwas möglich?
Keine Antwort, er spürte nur ein Pochen, als der Tod ihn, bis in die Seele hinein, einer gründlichen Prüfung unterzog.
»Willst du rein oder nicht? Ich gehöre nicht in den Himmel und habe keine Lust hier herumzuhängen, bis sie das herausfinden.« Jetzt war überaus deutlich, dass er nicht hierher gehörte.
Custo blickte über seine Schulter. Niemand war hinter ihm her. Noch nicht.
»Ich will.« Der Schattenmann sprach die Worte wie einen Eid aus. Der Tonfall erschütterte Custo bis ins Mark. Er war froh, dass er nicht da sein würde, wenn der Tod herausfand, dass Kathleen sich woanders aufhielt.
Custo grinste. »Komm zum Tor.«
Custo nahm zwei oder drei Stufen auf einmal. Er blickte nicht zu den grasbedeckten Ebenen, die zu den Großen Hallen führten. Er wollte nicht die Nerven verlieren, musste seine Chance nutzen.
Vorsichtig tastete er die geschnitzte Oberfläche des Tores ab. Als er die aufwendig gearbeiteten Figuren eines sich umarmenden Paares berührte, die das Schloss zum Himmel markierten, wurde seine Hand warm, sie brannte. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen und drückte dagegen.
Knarrend öffnete sich das Tor.
Custo stellte fest, dass sich die brennende Hand des Schattenmanns genau seiner gegenüber befand. Ein Lichtblitz, und sie tauschten ihre Positionen. Custo befand sich draußen.
Segue.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte Custo quer über den Strand. Er sprang in den Kanal und schwamm auf das treibende Boot zu. Mit etwas Glück gab es darin ein Ruder. Er erschrak über die Kälte des Wassers, verlor jedoch nicht an Geschwindigkeit. Die salzige Brühe lief ihm in den Mund, in Ohren und Nase. Er blinzelte gegen die brennenden Tropfen in seinen Augen an und wollte sich rasch einen Weg durch das Wasser bahnen.
Während er schwamm, prüfte er mit seinem Geist, ob man ihn verfolgte. Seine Wahrnehmung erweiterte sich, und er entdeckte Luca, der zusammen mit einer Gruppe von Leuten nach ihm Ausschau hielt und seinen Fortschritt verfolgte. Unter ihm löste sich der sandige Boden auf, und das Wasser gewann schnell an Tiefe.
An dem schmalen grauen Boot des Schattenmanns angekommen, streifte etwas sanft seinen Körper. Das Boot neigte sich gefährlich zur Seite, als Custo ein Bein über den Rand schwang und sich nach oben zog, und als er den Rest seines nassen Körpers hineinrollte, brachte er es beinahe zum Kentern. Er kniete sich sofort hin und blickte in das Wasser.
Der Schatten einer riesigen Kreatur – kein Fisch – tauchte auf. Er würde es als Meerjungfrau beschreiben, deren grünliche Haut über ausgeprägten Wangenknochen ins Blaue überging und ihr die Gesichtszüge einer Wassergöttin verlieh. Wie bei Medusa schlängelten sich ihre Haare wie dicke Tentakel um ihren Kopf, und während sie ihn beobachtete, blinzelte sie schnell mit ihren
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