Zwielichtlande
zitternd drehte sie den Kopf in seine Richtung.
Er stand vor einem der größeren Paneele. Das Laken war herabgefallen.
Annabella reckte den Hals, um zu sehen, was ihn störte. Es war eines von Kathleens Gemälden, das das weite Jenseits der Zwielichtlande zeigte.
Annabella kletterte herunter und riss die Tücher von den anderen Paneelen. Unter allen verbargen sich Kunstwerke von Kathleen. Drei Gemälde erinnerten stark an die, die sie in Adams Wohnung gesehen hatte. Sie untersuchte sie genauer und stellte fest, dass es dieselben Bilder waren. Es gab keinen Zweifel.
Wieso waren sie hier? Wieso verbannten sie Kathleens Kunst und verschlossen sie in den unterirdischen Gängen von Segue?
Der Wolf drückte sich an ihre Beine und drängte sie vorwärts. Sein Schwanz strich über ihre Schenkel, sein Knurren vibrierte auf ihrer Haut. Sie zuckte zusammen, als sie daran dachte, was sie wohl erwartete. Ihr Körper verspannte sich, aber nicht aus Lust. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitz. Sie wollte den Wolf nicht mehr, nicht auf diese Weise. Überhaupt nicht. Sie liebte Custo . Der Wolf mochte sie ausgetrickst haben, damit sie ihm in das Schattenreich folgte, aber er konnte sie nicht wirklich erreichen. Nicht nach ihrer Nacht mit Custo. Dieses Wissen war so befriedigend, dass sie daraus neue Kraft schöpfte, obwohl sich ihr Magen verkrampfte und in ihr ein Beben aufstieg.
Annabella wandte sich wieder dem großen Gemälde zu. Es zeigte ein schattiges Wäldchen, alterslose Bäume erstreckten sich nach oben über die Grenzen der Leinwand hinaus. Obwohl die Landschaft von Dunkelheit durchzogen war, hatten die Stämme, die knorrigen Äste, die herabhängenden dunkelroten Blätter eine ganz eigene Leuchtkraft, einen Schimmer von Magie. Sie entstammten Kathleens Fantasie, sie hatte sie mit dem Pinsel auf die Leinwand gebannt. Wenn Annabella zuließ, dass ihre Augen den Fokus verloren, konnte sie beinahe sehen, wie sich die Zweige bewegten.
Oh.
Abigail hatte ihr einen Weg nach draußen gezeigt. Den mit der wenigsten Gewalt verbundenen, wie Zoe gesagt hatte.
Tränen brannten in Annabellas Augen; sie wollte nicht gehen. Blanke Panik ergriff sie. Ein Teil von ihr wollte sich wie ein kleines Kind hinter Custo oder ihrer Mutter verstecken. Aber sie musste für sie sorgen. Sie musste tun, was notwendig war.
Das Knurren des Wolfes wuchs und entlud sich in einem Bellen.
Heiße, nasse Tränen rannen über Annabellas Wangen. Sie musste nicht tanzen; direkt vor ihr befand sich ein anderes Transportmittel. Es erforderte lediglich eine veränderte Wahrnehmung, die Verschmelzung von Realität und Fantasie, schon gewannen die Bäume an Tiefe, berauschendem Duft und Kontur. Das Schattenreich befand sich immer in der Nähe.
Für Mom. Custo . Und alle anderen.
Sanft legte Annabella ihre zitternde Hand auf die Leinwand und wünschte sich hinüberzutreten. Die Magie durchströmte sie, rauschte erregend durch ihr Blut und überlief ihren Körper.
In ihrer Brust erwachte ein intensiver Impuls, sie gab sich ihm hin und ließ sich von ihm treiben. Der Wolf keuchte an ihrer Seite. Im einen Augenblick war sie in Segue, im nächsten in …
Custo lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und schüttelte den Kopf über Dr. Powell. »Du sagst uns nicht die Wahrheit, Gillian, nicht die ganze jedenfalls. Wir haben Beweise, dass du mit jemandem außerhalb von Segue Kontakt aufgenommen hast.«
Ihre verbalen Äußerungen interessierten ihn nicht; er konzentrierte sich auf das mentale Durcheinander im Kopf der Ärztin, das wie ihre Zusammenarbeit mit den Geistern verwirrend und konfus war.
Er kann nichts wissen von … Ich bin doch so vorsichtig gewesen.
Er würde sie nicht gehen lassen, bis er alles aus ihr herausgequetscht hatte. Aber verdammt, es fühlte sich gut an, mit dieser Frau in einem Raum zu sitzen und über sie Bescheid zu wissen. Sie war die Verräterin, die so schwer zu fassen war. Ihretwegen war er in die sterbliche Welt zurückgekehrt.
Custo beugte sich wieder nach vorn, stützte sich mit den Ellenbogen auf den Knien ab und verschränkte die Hände, damit er nicht in Versuchung geriet, die Frau zu schütteln, um an Antworten zu kommen. »Hör zu, Adam vertraut dir, was Talia angeht. Er wird verstehen, wenn man dich manipuliert oder genötigt hat, Informationen weiterzugeben.« Eine Lüge. Custo war ziemlich sicher, dass Adam Dr. Gillian Powell für den Rest ihres unglückseligen Lebens einsperren wollte. Vielleicht wäre er sogar
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