Zwielichtlande
Körper mit Fell bedeckt war, sich nach vorn krümmte und eine kurze Schnauze hatte. Echt nicht ihr Typ.
»Sie gehört mir«, knurrte er. »Meine Gefährtin.«
Lieber fahre ich zur Hölle, dachte Annabella. Aber die Frau wirkte so abweisend, dass Sarkasmus nicht angebracht schien. Der Wolf befand sich momentan zu sehr in der Defensive, sie sollte ihn lieber nicht verärgern. Es war klüger, sie hielt ihre große Klappe.
»Sie ist eine Gefahr für uns alle.« Mit einem kühlen, durchdringenden Blick musterte die Frau aus dem Totenreich Annabella. »Du weißt, wozu sie in der Lage ist.«
»Ich habe sie unter Kontrolle«, sagte der Wolf.
»Und wenn nicht?«
»Ich schaffe das.« Seine Stimme strahlte Zuversicht aus. »Es ist ganz einfach.«
Custo hatte gesagt, er sei noch nie einer so komplizierten Frau wie ihr begegnet. Darauf baute sie.
Die Frau kniff die Augen zusammen. »Wenn du es nicht kannst, kriege ich deinen Pelz. Sie gehört nicht hierher.«
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Jetzt verstand Annabella. Sie, wer auch immer »sie« waren, wollten sie hier nicht haben. Die Frau aus dem Totenreich fürchtete Annabellas Gabe und gönnte sie ihr nicht. Du weißt, wozu sie in der Lage ist.
Wozu bin ich in der Lage? Unter den richtigen Umständen – im Kostüm auf der Bühne und mit einem bewundernden Publikum – konnte sie sich die Seele aus dem Leib tanzen und vielleicht etwas bewirken. Einen Weg freimachen. Aber das war hier nicht von Bedeutung und nützte ihr nichts. Denn sie befand sich in den Zwielichtlanden. Sie konnte nicht einfach dreimal die Hacken zusammenschlagen und sagen, nirgends ist es so schön wie daheim. Erstens besaß sie keine glitzernden roten Zauberschuhe, und zweitens sah die Eiskönigin vor ihr eindeutig nicht wie Glinda, die gute Hexe des Nordens, aus. Sie war ziemlich sicher, dass sie in Oz festsaß.
– gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht –
Selbst, wenn sie sie hier nicht wollten.
Erst als die Frau sich umdrehte und auf die dunklen Bäume zuglitt, bemerkte Annabella die Lichtschimmer, die sie umgaben, als würde sie von einem Gefolge geschützt.
Annabella drehte sich um. Wieder war sie mit dem Wolf allein.
Das Flüstern verstummte nicht: gehörtnicht, gehörtnicht, gehörtnicht. Vielleicht würden sie ihr irgendwann helfen. Wenn sie sie jemals sehen, mit ihnen sprechen konnte.
Plötzlich streckten die Bäume ihre Zweige wie große knochige Hände in den Himmel hinauf. Annabella schlang die Arme um ihren Kopf und duckte sich. Sie richtete sich erst wieder auf, als sie bemerkte, dass die Zweige eine gewölbte Decke bildeten. Sie stand in einem großen, offenen Raum, der mittelalterlichen Halle eines märchenhaften Schlosses. Die Stämme um sie herum verschmolzen zu Wänden, an denen auf großen Wandgemälden der erste Akt aus Giselle dargestellt war. Prinz Albrecht umwirbt das Bauernmädchen, obwohl er bereits einer anderen versprochen ist. Als er ihr das Herz bricht, indem er seine erste Verlobung einlöst, stirbt Giselle und wird eine Wili. Keine sehr romantische Geschichte.
»Tanz mit mir«, forderte der Wolf und richtete sich auf. Er trug jetzt das Kostüm von Prinz Albrecht und sah lächerlich aus. Er hatte wieder Jaspers Gesicht angenommen.
Egal mit welchem Gesicht er sich ihr zeigte, Annabella wusste, was er war. Und hatte zum letzten Mal mit ihm getanzt.
Annabella würde nicht seine Fantasie umsetzen. Sie wandte den Blick ab.
»Du hast mich geliebt.«
Darauf ging sie gar nicht ein. Das war in der Aufführung gewesen, in der die Schatten ihren Verstand getrübt hatten. Jetzt war ihr Verstand ganz in Ordnung.
»Und jetzt?« Jasper verwandelte sich erneut, wuchs, wurde kräftiger und nahm auf einmal Custos Gestalt an. Annabellas Herz machte einen Sprung.
Ein mieser, fauler Trick. Sehr wölfisch. Die Wut tat ihrer Angst überaus gut. Sie traute sich, auch diese Gestalt zu ignorieren.
»Du wirst ihn vergessen«, behauptete der Wolf. »Die Erinnerung hält hier nicht lange. Endlich wirst du mir gehören.«
Ganz sicher nicht. Nicht in einer Million Jahren. Sie gehörte bereits jemand anders und würde ihn nicht aus ihrem Herz vertreiben. Sie musste die neue Realität ertragen, Augenblick für Augenblick, bis … ja, bis wann eigentlich? Bis ans Ende der Welt? Bis die leisen Stimmen sagten, ›der Ausgang ist hier‹? Egal. Sie hatten beide eine lange Wartezeit vor sich.
Der Wolf verneigte sich wie Prinz Albrecht im Ballett und löste sich dann
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