Zwielichtlande
erste Person in einem weißen Kittel. »Talia braucht einen Arzt.«
»Ich bin aus der Forschung.« Der Mann reckte den Kopf und sah sich um. »Wo ist Powell?«
»Ich bin hier«, antwortete eine weibliche Stimme. Eine Frau mittleren Alters, gekleidet in eine Stoffhose und blassrosa Seidenbluse, schoss hinter dem Empfangstresen nach oben. Annabella sah dahinter und entdeckte Rudy, der mit offenen Augen und starrem Blick auf dem Boden lag. Tot.
6
Custo hatte die Hände im Nacken verschränkt, lief in der Zelle auf und ab und bemühte sich, nicht die Beherrschung zu verlieren. Schreien würde nichts helfen. Gegen die Tür aus Stahl und Beton zu treten, war ebenfalls sinnlos. Mit den Wachen zu diskutieren, die er vor der Zelle spürte, brachte auch nichts. Sie waren zu nichts zu bewegen. Sie hatten sich verpflichtet, Befehle zu befolgen. Nichts anderes hatte er erwartet; Adam stellte nur die Besten ein.
Custo stöhnte, lehnte sich mit den Händen gegen die Tür und machte im Stehen ein paar Liegestütze, um sich etwas abzureagieren. Wenn schon ein Geist nicht in der Lage war, hier herauszukommen, gelang es ihm bestimmt auch nicht. In dieser Hinsicht hatte er es im Himmel deutlich leichter gehabt. Er suchte mental nach Adam und Annabella, fand sie für den Bruchteil einer Sekunde, verlor sie aber in dem Wirbel aus menschlichen Gedanken sogleich wieder. Unerträglich.
Gedankenlesen war äußerst praktisch. Im Himmel hatte es ihm dabei geholfen, diversen unangenehmen Begegnungen aus dem Weg zu gehen, und theoretisch dürfte er damit auf der Erde nicht zu schlagen sein. Aber es gab zwei Probleme: Zunächst einmal war es schwierig, überhaupt ein einzelnes Individuum zu orten. Wenn dann noch ein klarer Gedanke in dem Bewusstsein von jemandem auftauchte, wurde er sogleich wieder von einer Sturmflut anderer Gedanken hinweggespült. Erwischte Custo endlich einen einzelnen Gedanken, war der schon nicht mehr relevant.
Aber er spürte genau, dass sich irgendetwas ereignet hatte. In dem plötzlichen Durcheinander von Gedanken in dem Gebäude konnte er zwei verzweifelte Entscheidungen ausmachen. Annabella wollte sich selbst verteidigen, und Adam setzte alles daran, Talias Leben zu retten. Beide waren wild entschlossen. Das ließ nichts Gutes ahnen und deutete daraufhin, dass etwas Furchtbares geschehen war. Ein Geisterangriff? Der Wolf?
Er machte einen weiteren Liegestütz, dann stieß er sich von der Wand ab.
»Lasst mich hier raus!« Solange er im Gefängnis saß, konnte er nichts tun. »Ich kann euch helfen!«
Während die Zeit langsam dahinfloss, wuchs seine Anspannung ins Unerträgliche.
Er saß in einer Ecke und hatte den Kopf in die Hände gestützt, als sich mit lautem Getöse das Schloss öffnete. Bevor die Tür aufging, stand er bereits.
Adam tauchte auf, sein Hemd am Bauch mit Blut verschmiert.
»Was ist passiert? Geht es Talia und Annabella gut?« Es kostete Custo seine gesamte Willenskraft, Adam nicht beiseitezustoßen und selbst nach den Frauen zu sehen.
»Du bist ein Engel?« Adams Stimme klang abwesend und heiser. Verzweifelt.
Kalte Angst befiel Custo. »Ich glaube.«
»Vorhin warst du dir sicher«, entgegnete Adam schneidend.
»Im Himmel war ich ein Engel, aber von dort bin ich geflohen. Ich weiß nicht, was dadurch mit mir passiert ist. Nicht wirklich.«
»Verdammt.« Adam fasste sich an den Kopf, zog die Schultern hoch und starrte auf den Boden, als suche er dort nach einer Lösung. Custo drang in seine Gedanken ein und stieß lediglich auf einen Wirbelsturm aus Ratlosigkeit. Adam hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
»Lass es mich versuchen«, sagte Custo. Wenn Adam derart fertig war, musste Talia in großer Gefahr sein. Custo dachte an die Babys, Zwillinge. Was, wenn er nicht helfen konnte? Was, wenn er sie nicht retten konnte? Er durfte nicht darüber nachdenken, nicht angesichts Adams blutverschmierten Hemdes.
»Und wenn du ein Geist bist, den man geschickt hat, um sie zu töten?«
»Das bin ich nicht.«
»Aber was, wenn doch?« Adam starrte auf Custos nun verheilten Unterarm.
»Ich bin kein Geist.«
»Wie kann ich da sicher sein?« Adams Miene war angespannt. »Kannst du es beweisen? Bitte!«
»Ist es so schwer, mir zu vertrauen?«
»Wir reden hier von meiner Frau.« Die Angst in Adams Stimme erinnerte Custo an jene Nacht, in der Jacob Adams Eltern ermordet hatte. Wenn Adam eine weitere Familie verlor, war er selbst verloren, daran hatte Custo keinen Zweifel.
Sanft sagte er: »Ich
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