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Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Kellison
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landete, wenn man sich mit einem Engel einließ.
    Engel . Die ganze Sache verursachte ihr Kopfschmerzen.
    »Das Theater, Annabella? Es ist schon nach zwölf Uhr mittags.«
    Sie hatte die Bemerkung mit dem Engel gestern Abend nicht einfach hinnehmen können und ihn zu einer halbherzigen Erklärung über seinen Tod und seinen Auftrag auf der Erde gedrängt: Er musste sie und Segue retten. Es kam ihr vor, als hätte er sich das ausgedacht. Wenn sie nicht mit eigenen Augen seinen ersten Zusammenstoß mit dem Wolf beobachtet hätte, hätte sie ihm niemals geglaubt. Seine überirdischen Augen, die dunkelblonden Haare und sein goldener Teint schienen äußerst engelhaft, aber die Art, wie er sich bewegte – und das sagte in Annabellas Augen mehr als alles andere über eine Person aus – , verriet etwas ganz anderes. Sein schleichender Gang und seine angespannte Körperhaltung deuteten auf animalische Kraft und Gewalt hin. Keinesfalls engelhaft.
    Sie wusste, dass er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.
    Er war entschlossen, die Welt von dem Wolf zu befreien, der Rudy umgebracht hatte und der die Verantwortung dafür trug, dass Talia beinahe ihre Babys verloren hatte. Alles ihretwegen. Sie durfte nicht zulassen, dass noch jemand zu Schaden kam.
    Die irre Situation wühlte Annabella auf, beherrschte ihre Träume und nahm ihr die Hoffnung. Das durfte alles nicht wahr sein.
    Die Realität entpuppte sich als schlimmer als ihr Albtraum. Schatten gab es überall. In den meisten Lichtquellen warf sie selbst einen.
    Annabella flocht ihre Haare zu einem Pferdeschwanz, um ihr neuerliches Zittern zu überspielen. »Ich muss anrufen, damit der Direktor für Ersatz sorgen kann.«
    Die Gala war um sieben. Der Compagnie blieb nicht mehr viel Zeit, die Serenade durchzugehen. Thomas Venroy war sicher wütend, wenn sie die Giselle aufgab, nachdem sie geschworen hatte, es zu schaffen. Das war das Ende ihrer Zeit am klassischen Balletttheater. Die Compagnie würde sagen, sie sei unter dem Druck zusammengebrochen, sei noch nicht so weit gewesen, eigne sich nicht als Primaballerina.
    Primaballerina .
    Ihr Traum, die Giselle zu tanzen, verpuffte. Sie fühlte sich innerlich so öde und einsam wie die Wüste.
    Tanz. Ballett. Freude. Alles weg. Sie bekam keine Luft mehr.
    Custo schüttelte den Kopf, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Annabella, das siehst du falsch.«
    »Nein, ich sehe vollkommen klar.« Durch seine Erklärung am gestrigen Abend hatte er ihre Fragen beantwortet – zum Schattenreich, der Herkunft des Wolfes und dazu, welche Rolle ihr Talent bei seinem Übertritt in die Welt gespielt hatte. Nur eine Sache hatte er nicht ausgesprochen, aber darauf war sie leicht selbst gekommen: Wenn Leben auf dem Spiel standen, war ihr Debüt als Giselle unwichtig. Sie durfte nicht auftreten.
    Als Custo ihr Kinn hochhob, sah sie ihm widerwillig in die Augen. »Was ist unser Ziel?«
    Annabella zuckte mit einer Schulter. Sie hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte und litt zu sehr, um ernsthaft darüber nachzudenken. Ihre Entscheidung war gefallen, und sie wollte jetzt weder denken noch fühlen. Beides erschien ihr zu qualvoll.
    »Unser Ziel ist es, den Wolf zurück ins Schattenreich zu bringen«, beantwortete er seine Frage selbst.
    Dafür sollte niemand sein Leben opfern.
    Verdammt. Sie musste sich ablenken, sonst würde sie zusammenbrechen. Es galt, einen Weg zu finden, sich von ihrem Kopf und ihrem Herzen und ihrem gesamten Körper zu lösen. Einen Weg, Custo zum Schweigen zu bringen.
    Ihr Blick glitt über seinen angewinkelten Unterarm zu jener Stelle, die in seinem Ärmel verschwand, weiter hinauf über seine gewölbten Muskeln und seine Schulter bis zu seinem Schlüsselbein. Lust erwachte in ihr.
    Ein Leben ohne Tanz war die Hölle. Wieso sich nicht kopfüber in ein Abenteuer stürzen?
    »Annabella? Du musst tanzen.« Er klang nicht mehr so rechthaberisch, aber sein Mitleid brauchte sie auch nicht. Sie war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Wieso ließ er sie nicht einfach in Ruhe?
    »Annabella!«
    Sie beobachtete, wie sich sein Mund bewegte, wie seine Zunge bei dem la ihres Namens zuckte. Sie hatte noch nie Sex mit einem beinahe Fremden gehabt, aber sie war in der Stimmung, leichtsinnig zu sein. Der Wolf würde sie vermutlich ohnehin bald umbringen. Sie hatte nichts zu verlieren.
    Sie hob den Blick und sah Custo in die Augen, die jetzt dunkel und etwas abgelenkt wirkten. Er hielt einen Augenblick inne, holte tief Luft,

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