Zwielichtlande
nicht. »Dann ist Talia hereingekommen und hat gesagt, sie wäre eine irre Todesfee und hat dem Kerl befohlen, zurück ins Schattenreich zu gehen. Okay, dann wurde es ziemlich gruselig, denn sie hat den Raum komplett verdunkelt. Ich hasse die Dunkelheit. Und der Jäger-Wolfskerl ist explodiert und aus dem Raum geflohen. Die ganze Sache ist verrückt!«
Custo ließ die Einzelheiten Revue passieren. »Er hat gesagt, er wäre ein Jäger? Ich dachte, er wäre ein Wolf.«
»Sind Wölfe keine Jäger?« Also echt, du Idiot.
Custo ignorierte ihren beleidigenden Gedanken. »Und er sucht einen Weg zurück ins Schattenreich?«
Die eigentliche Frage ist, dachte Annabella. »Warum hat ihm das Licht nichts ausgemacht? Das war vorher anders.«
Custo kannte die Antwort. Zuvor war der Wolf in den Zwielichtlanden eingeschlossen. Er blieb im Schatten, weil er musste. Die Trennung zwischen den Welten war unantastbar. Aber in der kurzen Auseinandersetzung in dem dunklen Wald, als die drei aufeinandergestoßen waren, hatte der Wolf die Grenze überschritten und war mit Annabellas Rückkehr in die Realität auf die Erde herabgefallen. Genau wie Custo herabgefallen und wiedergeboren worden war. Schatten blieben für den Wolf ein Zufluchtsort, aber das Licht auf der Erde machte ihm nichts mehr aus. Nicht, nachdem er frei war.
Zu kompliziert, um es Annabella zu erklären, zumal sie viel zu aufgelöst erschien, um zuzuhören. Es hatte schon lange genug gedauert, bis Adam, sein bester Freund, der wie ein Bruder für ihn war, ihm geglaubt hatte, und sie vertrauten sich bereits sehr lange. Annabella wusste nichts, also konnte er nirgendwo anknüpfen. Engel? Todesfee? Zwielichtlande? Custo entschied sich für die einfachste Antwort. »Wenn er wieder angreift, kümmere ich mich um ihn.«
Sie lachte verächtlich. »Wir wissen nicht, wie er aussieht. Er kann die Gestalt wandeln. Im einen Augenblick ist er ein Wolf, im nächsten ein Mann, im nächsten ein Haufen Schatten. Und du glaubst, du könntest dich um ihn ›kümmern‹? Das bezweifle ich.«
»Aber er besteht doch aus Schatten?«
»Hast du mir nicht zugehört? Licht kann ihm nichts anhaben!« Bei dem Wort »anhaben« wurde ihre Stimme schmerzhaft schrill, aber Custo achtete nicht darauf. Ihm kam eine Idee.
Je mehr er darüber nachdachte, desto sicherer wurde er, seine Panik wich einer neuen Entschiedenheit. Talia hatte ihn darauf gebracht. Sie war ein Kind der Schatten, und sie konnte es nicht ertragen, dass er in seinem jetzigen Zustand so »strahlte« – er war ein Engel. Auch der Wolf war ein Schattenwesen. Vielleicht konnte der Wolf ihn im Schattenreich herausfordern, seinem eigentlichen Revier. Konnte ihn angreifen und töten, falls Engel zweimal sterben konnten (ein verwirrender Gedanke). Aber auf der Erde würde der Wolf vermutlich vor ihm zurückschrecken, und er konnte ihm ebenso schaden wie der Todesfee, der Tochter des Schattenmanns. Vielleicht sogar noch mehr, denn Talia war zur Hälfte ein Mensch und dadurch vielleicht bis zu einem gewissen Grad durch ihre Gene geschützt.
»Annabella« – Custo strich ein paar dunkle Strähnen aus ihrem Gesicht – »vorher waren wir nicht auf ihn vorbereitet, aber jetzt sind wir es.«
»Er kann seine Erscheinung verändern. Was, wenn er sich in einen Löwen verwandelt? Oder, oder in einen Tiger, oder … «
»Einen Bären?«, vervollständigte Custo lächelnd.
Wieder schlug sie auf ihn ein. Diesmal tat es weh. »Mach dich nicht über mich lustig.«
Custo fasste sich. »Das nächste Mal sind wir vorbereitet.«
Annabella schwieg, aber sie bebte immer noch bei jedem Ein- und Ausatmen. Sie schluckte heftig, eine Sekunde zitterte ihr Kinn, dann hatte sie den Reflex unter Kontrolle.
Custo wollte sie näher an sich ziehen, wollte sie trösten, ließ sich aber von ihr zurückstoßen. Eine Sache hatte er über Annabella gelernt – sie stand gern auf eigenen Füßen. Sosehr er sie für die Demonstration ihrer Kraft bewunderte, sie machte ihn verrückt. Brachte es sie um, wenn sie sich von ihm für zwei Minuten halten ließ – richtig halten?«
»Er wollte, dass ich, oder wir, die Welten miteinander verbinden. Hat das mit dem Schattenzeug zu tun, von dem du und Talia gesprochen habt?«
Custo nickte knapp. »Ich weiß nicht, was Talia mit dir besprochen hat, aber was mich angeht, so glaube ich, ja. Es gibt drei Welten: Die Erde, die Zwielichtlande und das Jenseits.«
Sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ist der Wolf ein
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