Zwielichtlande
rannte, ein Rudel Wölfe schnappte mit gefletschten Zähnen nach ihren Fersen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen, sah sie jedoch ganz deutlich vor ihrem inneren Auge: Raues schwarzes Fell, gelbe Augen, scharfe weiße Zähne, die zu lang und zu spitz für jeden waren – auch für einen Wolf. Ihr Herzschlag verband sich mit ihren Schritten zu einem wilden Hämmern, dem Rhythmus der Jagd.
Hilfe!, schluchzte sie, während sie nach Luft rang.
Doch der Wald blieb stumm. Sie sprintete durch weit auseinander stehende Bäume – nirgends eine Möglichkeit, sich zu verstecken – , deren dicke Stämme wie Säulen aufragten, um den nicht existierenden Himmel zu stützen. Wo ist der Himmel?
Sie trieb ihren Körper an, schneller zu laufen, und gab alle Angst und Kraft in ihre Schritte. Sie spürte, wie der Abstand zwischen ihr und den Wölfen sich vergrößerte. Schließlich registrierte sie, dass deren Interesse plötzlich nachließ, denn das Rudel schwärmte mit aufgestellten Ohren aus.
Gerettet?
Dann ertönte das Schreien eines Babys, ein Neugeborenes tat seinen ersten Atemzug. Ein zweiter Schrei zeigte die Geburt von Zwillingen an.
Annabella stolperte, fiel hin, stützte sich auf dem Boden ab und drehte gerade noch rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, dass die Wölfe die Richtung änderten und wie ein schwarzer Strom den Hügel hinunter auf die Wehrlosen zurasten.
Nein! Hier! Nicht die Babys. Aber sie war stumm.
Sie zog sich an einem Baumstamm hoch, versuchte ihnen zu folgen, taumelte jedoch, als ihre Muskeln sie im Stich ließen und sich verkrampften, während ihr Körper das Blut durch die müden Venen pumpte. Sie drängte vorwärts und erreichte den Hügel, als der Schrei der Mutter die Stille durchbrach. Es war der Schrei einer Todesfee.
»Annabella!«
Eine tiefe Stimme drang in Annabellas Bewusstsein, aber sie weigerte sich aufzuwachen. Die Babys, es ist meine Schuld .
»Annabella!«
Sie spürte, wie sie liebevoll in den Arm genommen wurde und Wärme ihre zitternden Glieder durchströmte.
»Alles ist gut. Es ist nur ein Traum«, brummte eine Stimme. »Wach auf, Annabella.«
Der Albtraum färbte sich grau, löste sich auf und verschwand in dem nicht vorhandenen Himmel. Ihr Herz schlug noch immer wie wild; ihr Hals fühlte sich rau an.
Annabella öffnete ein Auge und blickte stumm auf die graublaue Wand vor sich. Sie war gegenständlich, echt. Doch in der Mitte der Wohnung hingen drei abstrakte Gemälde. Im Vordergrund ragten schwarze Baumstämme auf wie ein finsteres Tor, dahinter wirbelten in einem magischen Tanz verschwommene Gestalten umeinander. Wenn sie die Augen etwas zusammenkniff, schien sich das Bild zu bewegen. Auf gespenstische Weise erinnerte sie die Komposition an Giselle , wirkte jedoch eher rätselhaft als traurig.
Annabella blinzelte mehrmals mit den verschlafenen Augen. Wo war sie?
Sie drehte sich etwas und stellte fest, dass Custo sie in den Armen hielt. Er roch frisch nach Seife und Rasierschaum, seine Haare waren nass. Er lehnte am Kopfteil des Bettes, ihr Körper quer auf seinem Schoß. Wie ein Liebhaber, der es zuerst unter die Dusche geschafft hatte, lächelte er auf sie herab.
»Guten Morgen«, murmelte er, als sie zu ihm hochsah.
Sie hätte sich am liebsten an seine Brust geschmiegt und sich dem langsamen und regelmäßigen Schlag seines Herzens hingegeben. Seine Arme schienen der sicherste Platz auf der ganzen Welt zu sein. So stark. Ein Hauch von Lust kribbelte in ihrer Mitte, als er mit seiner Nase über ihren Nacken strich.
»Es ist alles in Ordnung. Du bist wach«, sagte er.
Und mit einem Schlag fiel ihr alles wieder ein: Die Kostümprobe, Custo, die Taxifahrt zu dem Lager, ihre nachfolgende Festnahme und Inhaftierung, die gruselige Zelle. Die süße Talia und ihre Babys. Und der Wolf.
Nichts war in Ordnung. Und nichts würde je wieder in Ordnung sein.
Die Welt, die sie gekannt hatte, stand kopf. Monster waren genauso real wie sie selbst. Ein Albtraum verfolgte sie. Und der Mann, der sie in den Armen hielt, war kein Mensch. Oder zumindest nicht mehr.
Ein Engel .
Annabella setzte sich auf und glitt von Custos Schoß. Die Schatten in den Ecken des Raumes schienen zu pulsieren.
Er ließ sie los und machte ein ernstes Gesicht. »Wann musst du im Theater sein?«
Wieso um alles in der Welt hielt er sie so in den Armen? Er war ein Engel , Herrgott noch mal. Sie ging schon lange nicht mehr in die Kirche, aber sie war sich ziemlich sicher, dass man geradewegs in der Hölle
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