Zwielichtlande
Gespenst?«
»Nein. Warte.« Custo überdachte seinen Ansatz. »Die Zwielichtlande, das Schattenreich, sind ein Ort der Möglichkeiten, der Fantasie, der Inspiration. Ja, die Menschen reisen kurz vor ihrem Tod dort hindurch; Talia ist ein Teil des Schattenreiches und kann als Todesfee mit ihrer Stimme die Schatten manipulieren und andere, wie den Wolf, dazu zwingen, die Grenze zu überschreiten. Aber die Zwielichtlande sind weit mehr als das. Die Menschen betreten sie in ihrem täglichen Leben, um sich inspirieren zu lassen und zu Erkenntnissen zu gelangen. Das Schattenreich ist eine Quelle der Magie, ein Brunnen, aus dem man Talent schöpfen kann, so wie du es getan hast.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« Sie schüttelte den Kopf und wehrte sich gegen alles, was er sagte.
»Doch, das tust du. Du weißt es ganz genau«, beharrte Custo. Sie hob das Kinn, aber er fuhr fort. »Ich habe dich zum ersten Mal im Schattenreich gesehen. Du hast getanzt, strahlend und wunderschön, voller Magie.«
»Ich bin nicht magisch.«
»Dein Talent ist eine Art von Magie.«
Sie runzelte die Stirn, ihr Blick verlor an Schärfe und sie dachte nach.
»Wieso tanzt du? Wie fühlst du dich dabei? Was kannst du, was andere nicht können?«
Es verging eine Weile. Er versuchte, ihre Gedanken zu lesen, aber sie bewegten sich zu schnell, eilten von einer Schlussfolgerung zur nächsten; ihr Intellekt ging die Ereignisse und Erklärungen durch, blieb aber nie an einem Ort stehen, um zu begreifen. Schließlich holte sie tief Luft, atmete aus und schüttelte den Kopf. »Du meinst, durch meinen Tanz käme ich an beide Orte? Dass ich tatsächlich in seinem Revier war?« Heißt das, ich darf nicht tanzen?
Custo griff nach ihrem Arm, aber sie zog ihn weg und seine Hand hing leer in der Luft. »Annabella … «
Sie wich einen Schritt zurück. »Erst der Wolf und jetzt du. Wie kannst du es wagen, mich anzufassen? Und vertraulich zu werden? Ich habe keine Ahnung, wer du bist. Nicht wirklich. Du hast mir einen sicheren Platz zum Schlafen angeboten und bis jetzt … «
Er musste sie unterbrechen, bevor sie eine drastische Entscheidung fällte. »Das ist immer noch der sicherste Ort für dich.«
»Soweit ich das beurteilen kann, bin ich nirgends mehr sicher«, erwiderte sie und wurde laut. »Ich kann noch nicht einmal tanzen.«
»Natürlich kannst du das. Aber jetzt weißt du, dass du die Magie genauso beherrschen musst wie deine Bewegungen. Jetzt weißt du, wieso die ganz Großen ganz groß sind und dass du zu ihnen gehören kannst.«
Sie presste die Hände auf die Ohren und hielt ihren Kopf. »Ich will nicht mehr darüber reden!« Ich kann nicht.
Custo schluckte alles hinunter, was er hatte sagen wollen. Die Worte brannten in seinem Hals, genau wie seine Arme darauf brannten, sie zu halten. Beschwichtigend hob er die Hände. Nicht heute Nacht.
Sie ließ die Arme sinken. »Gibt es in diesem Laden jetzt ein verdammtes Bett für mich oder nicht?«
Er bemühte sich, nicht über ihren Ton zu lächeln. »Ja. Solange er bei Talia bleibt, hat Adam uns seine Wohnung überlassen.« Offensichtlich würde Custo die erste Nacht, die er zurück auf der Erde war, auf dem Boden schlafen müssen.
Er öffnete die Tür und blickte hinaus. Die Wächter standen auf ihren Posten. Alles war ruhig. Nirgends lauerten Wölfe. Er hätte gern den Arm um sie gelegt – es hatte sich so gut angefühlt – , aber er unterdrückte den Impuls. Annabella trat zu ihm und spähte ebenfalls hinaus. Sie presste die Lippen aufeinander, nahm offenbar allen Mut zusammen und trat aus dem Labor.
»Der Aufzug?«, fragte Custo die Wächter.
Die Sicherheitsbeamten wiesen ihnen den Weg und würden heute Nacht vor Adams Wohnung Posten beziehen.
Als sie auf zwei normale silberne Schiebetüren zukamen, spürte Custo eine Hand an seinem Ellbogen.
»Warte«, sagte Annabella und wirkte wieder vollkommen verwirrt, »was hast du in den Zwielichtlanden gemacht?«
Custo dachte an ihre letzte Bitte und entschied sich für die Wahrheit. »Ich war auf der Durchreise auf meinem Weg zurück zur Erde.«
Sie blieb abrupt stehen, bevor sie in den Aufzug stiegen, runzelte die Stirn und versuchte zu begreifen, was er gesagt hatte. Er war nicht bereit, es ihr genauer zu erklären, nicht, nachdem sie deutlich geäußert hatte, dass sie es nicht hören wollte.
»Aus dem Jenseits?«, fragte sie.
Custo nickte und zog sie in den Aufzug. »Dem Himmel. Ich bin dein Schutzengel.«
7
Annabella
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