Zwillingsblut (German Edition)
erinnerte sich an ihr Erlebnis auf der Straße. Auch dort war sie tot gewesen. Sofia schloss die Augen und konzentrierte sich. Schlag – Schlag – Schlag – – – Kein Herzschlag mehr. Trotzdem öffnete sie die Augen.
Großartig!
»Wahrscheinlich bin ich einfach nur zu dumm, um tot zu bleiben!«, murmelte sie, doch selbst ihr Zynismus konnte sie nicht aufheitern.
Zu bald schon würde der Anruf kommen, dass ihre Schwester tot war: Ein Selbstmord in der Badewanne. Sie würde – musste! – wach sein für diesen Anruf. Soviel schuldete sie ihrer Schwester! Sofia kämpfte ihr schlechtes Gewissen nieder. Der Tod war Melanies Wunsch gewesen, sie hatte es so gewollt. Schicksalsergeben nahm sie den Telefonhörer von der Station, zog die Tagesdecke auf der Fensterseite bis zum Boden und legte sich mit ihm in die nahezu vollkommene Dunkelheit unter ihrem Bett.
Tot aber nicht lebensmüde!
Sofia starrte in die Finsternis und versuchte krampfhaft an etwas anderes zu denken, als an die Nacht mit dem Vampir oder an Melanies letzte Augenblicke, an den Geschmack des Blutes in ihrem Mund. Schließlich konnte sie nur noch mühsam ein Gähnen unterdrücken. Wurde sie müde, weil der Tag anbrach, oder weil sie schon lange wach war? Immerhin war sie gestorben, aus einem Sarg ausgebrochen, hatte ihre Schwester getötet und einige Vampir-Experimente angestellt. Nichts davon hatte gestern Abend auf ihrer To-Do-Liste gestanden.
Der erste Sonnenstrahl beantwortete Sofias Frage. Als er in ihr Zimmer fiel, konnte sie ihn durch die Dunkelheit hindurch spüren. Bleierne Müdigkeit überfiel die Vampirin und sie schloss ihre Augen. Der Gedanke an Melanie ließ sie sie wieder öffnen. Was war mit der Beerdigung? Sie konnte unmöglich zulassen, dass nur Melanies Betreuer da waren!
Sofia streckte ihre rechte Hand Richtung Bettdecke, überlegte es sich aber anders. Sicherheitshalber konzentrierte sie sich auf ihr Herz: Schlag – Schlag – Schlag, sie konnte unmöglich tot sein und unmöglich verbrennen. Trotzdem dachte sie darüber nach, welchen Teil ihres Körpers sie für den Rest der Ewigkeit am ehesten entbehren konnte – nur für den Fall, dass es schief ging.
Dinge, die ich nicht wissen wollte, aber gezwungen war zu erfahren
, dachte sie, murmelte ein Stoßgebet gen Himmel und streckte langsam den abgespreizten kleinen Finger der linken Hand in die Sonne. Nichts geschah. Erleichterung durchflutete Sofia und sie robbte rücklings aus ihrem dunklen Versteck, hielt sich aber außerhalb der Sonneneinstrahlung.
Wenn ich jetzt doch zu Staub zerfalle, werde ich aber echt sauer!
, dachte sie und betrat das Sonnenlicht. Die Müdigkeit war schlagartig und lähmend. Es gelang ihr nur noch, sich Richtung Bett zu drehen, bevor sie einschlief.
4
Edward näherte sich dem Gebäude und versuchte seine innere Stimme zu ignorieren. Selten genug kam es vor, dass er trotz seiner zweitausend Jahre sein Gewissen bemerkte. Und gerade ein schlechtes konnte er sich nicht erlauben. Nicht hier und nicht jetzt.
Der Vampir betrat den steinernen Moloch und dachte wieder daran, wie sehr er das Gebäude verabscheute. Von außen sah es aus wie ein zeitloses Herrenhaus, grau und unwirtlich und von Innen war es nicht anders. Es war zu groß, zu leer und zu kalt. Die Königin hatte sich nie die Mühe gemacht, diesen Ort zu einer modernen Heimat werden zu lassen, es gab keine Technik, keine Elektrizität, nicht einmal Toiletten – wozu auch, wenn niemand der Bewohner mehr menschliche Bedürfnisse hatte?
Trotzdem brodelte der Palast vor Leben.
Vor Tot
, korrigierte sich Edward. Er konnte die anderen spüren und verachtete sie, weil sie ihr After-Life liebten. Nein, er war keiner dieser Vampire, die dauernd lamentierten, aber er war auch niemand, der sein komplettes Leben geändert hatte. Er hatte immer noch dieselben Prioritäten und war stolz darauf. Jederzeit konnte er als Mensch durchgehen. Die meisten anderen Vampire waren Ignoranten, die nichts von der Zeit wusste, in der sie lebten, nichts von den Menschen und nichts von den Vampiren. Sie wussten nicht einmal, wer Edward war oder welches Amt er bekleidete. – Und sie würden ihn erst erkennen, wenn es für sie zu spät war. – Solange ignorierte Edward sie.
»Halt!«, die Stimme hinter ihm klang überheblich und schlecht gelaunt. Edward machte sie nicht einmal die Mühe, sich umzudrehen.
»Halt, habe ich gesagt!« Der Besitzer der Stimme bewegte sich so schnell es ihm seine vampirischen Fähigkeiten
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