Zwillingsblut (German Edition)
seit einer Ewigkeit auf diesen Augenblick gewartet, nur für ihn gelebt. Nicht ein einziges Mal versucht Melanie um ihr Leben zu kämpfen. Dankbar hieß sie ihren Tod willkommen und gab nach, als ihre Schwester instinktiv in ihre Gedanken eindrang, um ihr Opfer beruhigend und sanft zu geleiten. Für einen Augenblick fühlte Sofia Melanies Bewusstsein so deutlich, wie ihr eigenes, konnte ihre Empfindungen und Gedanken sehen und fühlen, dann stürzte Melanies Geist in Dunkelheit. Melanies mentaler Schrei um Halt ließ Sofias Bewusstsein erneut nach ihr greifen. Sie konnte spüren, wie Melanie für Sekunden mit ihr verschmolz, fühlte ihre Schwester sterben, doch gleichzeitig Melanies Bewusstsein in ihrem, Melanies Stimme in ihrem Kopf. Melanies Blut in ihren Adern, Melanies Leben, Melanies Seele. Zum ersten Mal fühlte Sofia Melanies Zufriedenheit und begriff, wie sehr ihre Schwester vorher gelitten hatte. Schlagartig erkannte sie, was vorgefallen war. Begriff die unauslöschliche Liebe zwischen ihnen und empfand nur noch eine seltsame, vage Trauer, als sie Melanies toten Körper zusammen mit dem Messer in der Badewanne platzierte und warmes Wasser anstellte.
3
Sofia ging durch die verlassenen Straßen der Nacht, huschte von Schatten zu Schatten, während der Schein der Straßenlaternen Lichtkleckse bildete, die den Raureif auf den Straßen weiß schimmern ließen. Die zerbrechliche Schönheit der kleinen Wasserkristalle hatte sich durch die einsetzende Nachtkälte auf den feuchten Straßen und Gehwegen gebildet und kündete vom nahen Winter, dem Stillstand des Lebens.
Die junge Frau lächelte über diese Metapher, weil sie sich in der nächtlichen Stadt wie ein Geist vorkam. Sekunden später verharrte sie mitten in der Bewegung, da ihr der Gedanke, der schon seit Minuten in ihrem Gehirn herumspukte, endlich in ihr Bewusstsein wagte. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte.
Unwillkürlich sondierte ihr Körper und ein Teil ihres neuen Wesens die Umgebung. Die Straße des verschlafenen Vorortes war menschenleer, die Fenster der freundlichen Einfamilienhäuser dunkel. Genauso dunkel wie der sternenleere Nachthimmel. Selbst die Geräusche der Autos auf der nahen Schnellstraße waren nur mehr eine leise Hintergrundmusik, die sich in die Klänge der Nacht einfügte und Sofias Ohren schmeichelte. Sie schloss die Augen und genoss für einen Augenblick das Gefühl der dunklen Harmonie, das Prickeln der kalten Luft auf ihrem Gesicht, bevor der Gedanke sich wieder anmeldete. Fordernd. Er zwang sie dazu, sich endlich mit dem auseinander zu setzen, was geschehen war. Spulte wie im Schnelldurchlauf alles ab: Unbewusst hatte sie den Weg eingeschlagen, den sie jeden Tag gegangen war. Die übliche Route von Melanies Wohnheim zu ihrem Zuhause.
Doch jetzt war sie reglos erstarrt, stand auf dem Kopfsteinpflaster und wartete vor der Toreinfahrt, in der sie gestern Abend in die Falle gegangen war. Wieder konnte sie die Berührungen des Fremden auf ihrem Körper spüren, seine fordernden Finger, wie sie Knopf um Knopf ihrer Bluse gelöst hatten, um dann anüber ihren Busen nach unten zu wandern. Sofia trat einen Schritt zurück. Es half nichts. Sein Atem blies wieder in ihr Gesicht, sie spürte seine kühle Haut an ihrer und selbst die Erinnerung an die Welle der Leidenschaft brachte ihren Körper zum Zittern. Welche Macht hatte er über sie gehabt? Mit welchem Recht hatte er ihre wolllüsternen Schreie getrunken, mit denen sie ihn eingeladen hatte, sich zu nehmen, was ihm nicht zustand?
Kämpferisch ballte sie ihre Hände zu Fäusten und betrat entschlossen die Dunkelheit der Einfahrt. Nichts. Es war einfach nur die Toreinfahrt zwischen zwei Häusern. Es gab keinen Hinweis darauf, was hier geschehen war. – Oder ob es überhaupt hier geschehen war und nicht nur ihrer Phantasie entsprang.
Was hast du erwartet? Einen Hinweis auf einen Vampir? Ein wichtiges Indiz, welches dich direkt zu deinem Schöpfer bringt?
Sofia schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu vertreiben. – Und ihre Enttäuschung, die sie überraschte und schockierte.
»There’s no …«, klang es laut durch die Dunkelheit. Die plötzlichen Worte ließen Sofia beinahe erschrocken in eine Mülltonne springen. »… time for us …«, schallte es unbeirrt weiter, bis Sofia endlich den Ursprung des Lärms in ihrer Tasche gefunden hatte. Verwirrt betrachtete sie die Anzeige ihres Handys »Who Wants to Live Forever«, mit der es sie gutgelaunt daran erinnern
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