Zwischen jetzt und immer
Situation schon einmal gewesen ist. Ab dann hängt es von einem selbst ab, wie es weitergeht, und im Mittelpunkt steht nur noch eins: die
Möglichkeiten
, das Potenzial des Lebens.
Ich stand auf, trug einen Stuhl zum Schrank und stellte mich drauf, um das neueste
E.I.N.fach
-Produkt zu den anderen zu legen. Ich wollte schon wieder runterklettern, da fiel mein Blick auf die Einkaufstüte, die ich vor Wochen ebenfalls dort oben hingeräumt hatte. Schon den ganzen Tag über hatte ich das Gefühl gehabt, irgendwie wäre alles anders als sonst. Vermutlich streckte ich nur deshalb die Hand aus und zog die Tüte vom Regal.
»Ich fasse es nicht«, murmelte meine Mutter vor sich hin, die gerade an meiner nur angelehnten Schlafzimmertür vorbeieilte. Mir war sofort klar, dass sie das Donnergrollen über unseren Köpfen meinte. »Als läge ein Fluch über dem heutigen Tag.«
Ich setzte mich wieder aufs Bett, nahm das Päckchen ausder Tüte. Es fühlte sich ziemlich schwer an. Ich legte es auf meinen Schoß und begann sofort, es auszuwickeln.
»Also wirklich!« Jetzt murmelte sie nicht mehr, sondern rief laut gegen den ebenfalls immer lauter werdenden Donner an. »Wie soll man denn so ein Wetter überhaupt einplanen?«
Das Papier verknitterte und zerriss beim Auspacken. Und plötzlich spürte ich intuitiv, dass sich etwas mir Wohlbekanntes unter dem Geschenkpapier verbarg, kam aber noch nicht drauf, was es war.
»Der Rasen, der Caterer, das Zelt . . .« Erneut hastete meine Mutter an meiner Zimmertür vorbei. »Was kommt wohl als Nächstes?«
Ich saß ganz still da (dafür klopfte mein Herz umso lauter) und betrachtete mein Geschenk. Schließlich hob ich langsam die Hand und legte sie auf ihr Gegenstück in der Skulptur auf meinem Schoß. Auf einmal begann einiges einen Sinn zu ergeben, anderes dagegen verwirrte mich stärker denn je zuvor. Eins wusste ich allerdings mit Bestimmtheit: Das Herz in meiner Hand –
diese
Herzhand – gehörte mir. So lange hatte ich vergeblich auf ein Zeichen gehofft. Dabei war es die ganze Zeit über in meiner Nähe gewesen und hatte darauf gewartet, dass ich endlich bereit sein würde, es zu empfangen.
Noch hallte die letzte Frage meiner Mutter in meinem Kopf wider, da donnerte es plötzlich so heftig und laut, dass die Fenster klirrten, das Haus wackelte und die Erde bebte. Zumindest bekam man das Gefühl. Und dann fing es an zu schütten.
Meine Mutter hatte eine Antwort auf ihre Frage bekommen. Und ich ebenfalls.
Kapitel 20
Als ich ins untere Stockwerk kam, tobte im Haus mindestens so ein Orkan wie draußen.
Nachdem ich die Herzhand neben den Engel auf meinen Nachttisch gestellt hatte, aufgestanden und die Treppe hinuntergelaufen war, hatte ich eigentlich gedacht, ich wüsste, was ich jetzt zu tun hätte. Aber als ich die Küche betrat, wurde ich fast von einem Tischchen erschlagen, das meine Schwester in Windeseile durch die Gegend trug. Sie und meine Mutter waren hektisch dabei, Möbel zu verrücken, Stühle zu stapeln, Sofas an die Wand zu schieben und so weiter, um auf diese Weise irgendwie Platz für fünfundsiebzig Gäste in unserem Esszimmer, unserem Wohnzimmer und dem Eingangsflur zu schaffen.
»Macy, mach irgendwas mit den Hockern«, rief Caroline mir zu, während sie mit dem Tischchen an mir vorbeiflitzte.
»Welche Hocker?«
»Die an der Küchentheke«, keuchte meine Mutter hysterisch und rannte dabei genau in die entgegengesetzte Richtung, wobei sie ein Polsterbänkchen hinter sich herschleppte. »Reih sie dicht an der Wand auf. Oder stell sie in mein Arbeitszimmer. Hauptsache, sie verschwinden aus der Küche.« Sie kreischte fast. Ihre Stimme klang, als würde sie jeden Moment durchdrehen. Ich sah sie an. Aber nur kurz.Dann tat ich lieber ganz schnell das, was sie mir aufgetragen hatte.
Ich hatte meine Mutter ja schon oft in Stresssituationen erlebt. Wusste, wie sie aussah, wenn sie trauerte. Aber so wie jetzt gerade kannte ich sie nicht. Sie schien die Kontrolle über sich komplett verloren zu haben. Es machte mir Angst. Ich drehte mich um, warf Caroline einen ratlosen Blick zu. Doch sie schüttelte bloß den Kopf und machte mit dem weiter, was sie gerade tat, nämlich einen der großen Ohrensessel an die Wand zu schieben. Kein Mensch kann so viel Anspannung und Druck aushalten, dachte ich, jedenfalls nicht so lang. Früher oder später würde etwas in ihr, würde
sie
zusammenbrechen.
Deshalb streckte ich, als sie das nächste Mal an mir vorbeisauste, die
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