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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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schien, denn ein Schatten flog über sein Gesicht. Doch der Moment war ebenso schnell vorbei, so dass ich sofort wieder daran zweifelte, ob ich überhaupt richtig gesehen hatte. »Ich rede nicht vom vierten Juli, sondern von dem Abend, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du warst so . . .« Ich brach ab, weil mir kein passender Ausdruck dafür einfiel. Und trotzdem . . . Ich bekam die Chance, etwas zu erklären oder vielleicht sogar eine Erklärung zu bekommen, wenn man auseinander ging oder etwas zu Ende war   – das war eine ganz neue, ungewohnte Situation für mich.
    Doch Wes wartete offenbar geduldig darauf, dass ich weitersprach, egal was ich als Nächstes sagen würde.
    »Es war einfach schräg.« Kein besonders gutes oder zutreffendes Wort, aber irgendetwas musste ich ja sagen. »Du warst schräg drauf. Deswegen dachte ich, es wäre vielleicht zu viel gewesen.«
    »Was war zu viel?«
    »Ich. Am vierten Juli. Als ich im Krankenhaus zusammengebrochen bin.« Er war vollkommen perplex; anscheinend hatte er keine Ahnung, wovon ich redete. »Wir. Wir waren vielleicht auch zu viel. Füreinander. Und weil du, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, so komisch warst, hatte ich das Gefühl, du wolltest mich nicht mehr sehen.«
    »Da irrst du dich«, antwortete er. »Es lag nur daran, dass   –«
    Ich unterbrach ihn. »Ich bin dir gefolgt, um mich bei dir zu entschuldigen. Irgendwie wusste ich, dass ich dich im Waffelcafé finden würde. Deshalb bin ich dorthin gefahren und habe dich gesehen. Mit Becky.«
    »Du hast mich gesehen«, wiederholte er, »nachdem wir auf dem Parkplatz vorm Supermarkt miteinander geredet hatten?«
    »In dem Moment habe ich endgültig kapiert, was los war«, erwiderte ich. »Aber ich fand alles schon vorher ziemlich merkwürdig. Wie wir da standen, wie wir redeten . . . Deshalb hatte ich plötzlich den Eindruck, was am vierten Juli passiert ist, wäre dir zu viel geworden. Und das war mir peinlich.«
    »
Deshalb
hast du die Bemerkung über dich und Jason gemacht«, sagte Wes auf einmal. »Dass ihr vielleicht wieder zusammenkommen würdet. Dann bist du mir gefolgt, hast mich gesehen und   –«
    Wieder fiel ich ihm ins Wort und schüttelte dabei energischden Kopf, um ihm zu signalisieren, dass er nichts weiter zu erklären brauchte: »Ist schon okay. Das spielt alles keine Rolle mehr.«
    »Okay«, wiederholte er. Warum lief es immer wieder darauf hinaus? Warum tauchte immer wieder dieses verdammte Okay auf, wenn man gefragt wurde, wie es einem ging? Obwohl dem, der gefragt hatte, die Antwort im Grunde meistens herzlich egal war, weil er die Wahrheit gar nicht wirklich wissen wollte.
    Irgendetwas flog von hinten gegen meine Beine. Ich senkte den Kopf und sah ein Stück weißen Stoff, der sich wahrscheinlich von einer Wäscheleine losgerissen oder zu irgendeinem Gartenmöbel gehört hatte. Im nächsten Moment segelte es auch schon wieder weiter und verschwand über den Büschen neben mir. »Wir wussten beide, dass Jason und Becky zurückkommen und unsere Beziehungspausen irgendwann zu Ende sein würden«, sagte ich. »Das war für niemanden eine Überraschung, sondern von vornherein so geplant. Wir wollten es doch gar nicht anders.«
    »Stimmt das?«, fragte er. »Willst du es wirklich nicht anders?«
    Ob absichtlich oder nicht   – damit hatte Wes die letzte Frage gestellt. Die entscheidende Frage, mit der unser Wahrheitsspiel enden würde. Wenn ich jetzt gesagt hätte, was ich wirklich dachte, wäre ich so offen gewesen wie noch nie in meinem Leben; gleichzeitig hätte ich mich dadurch verwundbar gemacht, verletzlich. Und das schaffte ich nicht. Es entsprach mir einfach nicht. Wes hatte im Verlauf des Spiels viele Regeln verändert und auf raffinierte Weise zu seinen Gunsten ausgelegt. Aber ich würde jetzt eine Regel brechen, und zwar die wichtigste, die entscheidende Regel: Ich würde
nicht
die Wahrheit sagen.
    »Ja«, antwortete ich.
    Ich wartete darauf, dass er etwas sagte, wartete auf irgendeine Reaktion und fragte mich dabei im Stillen, was wohl als Nächstes geschehen würde, jetzt, da das Spiel vorbei war. Doch Wes’ Blick wanderte plötzlich an meinem Gesicht vorbei und nach oben. Verblüfft hob ich den Kopf, um nachzusehen, was ihn ablenkte. Aber ich sah eigentlich gar nichts mehr, nur wirbelndes Weiß, das den Himmel bedeckte.
    Es war fast wie Schnee; doch während die einzelnen Stücke langsam herunterfielen und um mich herumwehten, bemerkte ich, dass es sich um Fetzen

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