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Zwischen jetzt und immer

Zwischen jetzt und immer

Titel: Zwischen jetzt und immer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Dessen
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aufgelöst hätte, wie eine Seifenblase, die beim Anfassen zerplatzt. Wie Gespenster. Gespenster waren auch so.
    Aber als ich die Fahrertür öffnete, fühlte sich der Griff unter meiner Hand stabil an, real. Dennoch klopfte mein Herz wie rasend, vor allem als mir der vertraute Geruch nach altem Leder, Zigarrenrauch und Meer in die Nase drang   – jener Geruch nach Sand und Salzwasser, den man auf der Heimfahrt vom Strand immer noch ein Stück mit sich nimmt und von dem man sich jedes Mal   – vergeblich   – wünscht, er bliebe einem erhalten.
    Ich liebte diesen kleinen Truck. Nirgendwo sonst hatten mein Vater und ich so viel Zeit miteinander verbracht: ich auf dem Beifahrersitz, die Füße gegen das Armaturenbrett gestemmt, er am Steuer, Ellbogen aus dem Fenster, Finger, die im Rhythmus zur Musik aus dem Autoradio aufs Dach klopften. Samstagmorgens fuhren wir zusammen darin Brötchen holen oder in der Gegend rum, um Baustellen zu besichtigen; oder wir kehrten abends von irgendwelchen Wettkämpfen zurück, wobei ich mich am liebsten in der gemütlichen Ecke zwischen Fenster und Sitz zusammenrollte und sofort einschlief. Solange ich auf der Welt war, hatte die Klimaanlage nicht funktioniert, weswegen es in dem Führerhaus oft so stickig und heiß war, dass man vertrocknete und verdurstete, aber das machte nichts, mir jedenfalls nicht. Der Truck war wie das Haus am Meer: ein bisschen runtergekommen, schäbig, vertraut, unverwechselbar, mit seinem ganz eigenen Charme. Er war nicht wie, er
war
mein Vater. Und jetzt war er zurückgekehrt.
    Ich machte behutsam die Fahrertür zu und ging zum Haus. Die Tür war nicht verschlossen. Ich trat ein, streifte wie immer als Erstes meine Schuhe ab und spürte etwas Ungewohntes unter meinen nackten Sohlen. Hockte mich hin, strich mit dem Finger übers Parkett: Sand!
    »Hallo?« Meine eigene Stimme hallte von den hohenWänden, von der Decke wider. Danach herrschte wieder vollkommene Stille.
    Meine Mutter war in ihrem Büro, wo sie potenzielle Hauskäufer empfing, und zwar schon seit fünf Uhr nachmittags. Das wusste ich mit Sicherheit, sie hatte mir nämlich gegen zehn eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Also entweder hatte sich der Wagen meines Vaters in den letzten fünf Stunden allein von der Küste hierher gefahren oder es gab eine andere Erklärung, warum er unerwartet hier aufgetaucht war.
    Ich lief durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses und schaute die Treppe hoch. Meine Schlafzimmertür stand offen; normalerweise hielt ich sie geschlossen, damit es drinnen kühl oder warm blieb, je nachdem.
    Ich ging die Treppe hinauf. Was sollte das alles? Und vor allem: Wie fand ich es? Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Dabei hatte ich mir bestimmt schon tausendmal gewünscht, mein Vater würde eines Tages einfach wieder auftauchen und es würde sich herausstellen, dass das ganze Elend ein einziges Missverständnis gewesen war, über das wir am Ende lachen konnten, weil es trotz allem gut ausgegangen war. Wenn, ja wenn doch bloß . . . wie oft war mir der Gedanke schon durch den Kopf geschossen?
    Als ich mein Zimmer erreichte, blieb ich im Türrahmen stehen und bemerkte zu meiner Erleichterung, dass alles genau so war, wie ich es verlassen hatte: mein Computer, die geschlossene Kleiderschranktür, das Fenster, das Buch mit den Prüfungsfragen auf meinem Nachttisch. Alles so, wie es sein sollte. Doch als mein Blick aufs Bett fiel, entdeckte ich auf dem Kopfkissen einen dunklen Haarschopf. Nicht mein Vater war zurückgekehrt. Natürlich nicht. Aber Caroline.
     
    Sie sei bloß mal kurz vorbeigekommen, um uns zu besuchen, behauptete sie, sorgte jedoch sofort wieder für Aufregung.
    »Caroline!«, sagte meine Mutter. Ihr Ton hatte sich in den letzten Minuten mehrmals geändert, von höflich zu streng zu verärgert. »Schluss mit der Diskussion. Das ist weder der richtige Ort noch der rechte Zeitpunkt.«
    »Vielleicht nicht der richtige Ort.« Caroline nahm sich noch ein paar Salzstangen. »Aber ganz bestimmt der richtige Zeitpunkt. Es wird nämlich Zeit, Mama, höchste Zeit.«
    Montagmittag. Wir saßen im
Bella Luna,
einem schicken kleinen Bistro in der Nähe der Bibliothek. Ausnahmsweise verbrachte ich meine Mittagspause nicht allein, sondern in Gesellschaft meiner Mutter und meiner Schwester. Allerdings wurde mir so langsam klar, dass ich vielleicht doch lieber mein übliches einsames Sandwich auf meiner üblichen einsamen Parkbank gegessen hätte, denn es stellte sich

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