Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars

Titel: Zwischen Nacht und Dunkel - King, S: Zwischen Nacht und Dunkel - Full Dark, No Stars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
geflüchtet war, verschwand er für einige Zeit. Er »tauchte unter«, wie es bei Verbrechern heißt. Das sage ich mit einem gewissen Stolz. Ich hatte geglaubt, dass man ihn fast sofort nach seiner Ankunft in der Stadt schnappen würde, aber er widerlegte meine Befürchtungen. Er war verliebt, er war verzweifelt, er brannte weiter vor Schuldgefühlen und Entsetzen wegen des Verbrechens, das er und ich verübt hatten … aber trotz dieser Ablenkungen (dieser Infektionen ) bewies mein Sohn Tapferkeit und Cleverness, sogar eine gewisse traurige Noblesse. Der Gedanke an letzteren Charakterzug ist der schlimmste. Er erfüllt mich noch heute mit Melancholie wegen seines verpfuschten Lebens (wegen dreier verpfuschter Leben; ich darf die arme schwangere Shannon Cotterie nicht vergessen) und Reuegefühlen wegen des Verderbens, in das ich ihn wie ein Kalb mit einem Strick um den Hals geführt habe.
    Arlette zeigte mir die Hütte, in der er sich verkrochen hatte, und das dahinter versteckte Fahrrad - dieses Fahrrad war das Erste, was er sich von seiner Beute kaufte. Ich hätte
nicht genau sagen können, wo sein Versteck lag, aber seit damals habe ich es ausfindig gemacht und sogar besucht: nur eine Hütte am Straßenrand mit einer verblassten Werbung für Royal Crown Cola auf der Giebelseite. Sie stand einige Meilen außerhalb von Omaha in Sichtweite des Waisenhauses »Boys Town«, das erst im Jahr zuvor den Betrieb aufgenommen hatte. Ein einziger Raum, ein unverglastes Fenster, kein Ofen. Henry versteckte sein Fahrrad unter Heu und Unkraut und schmiedete Pläne. Ungefähr eine Woche nach dem Überfall auf die First Agricultural Bank - unterdessen würde die Polizei sich kaum mehr für diesen nicht gerade spektakulären Bankraub interessieren - begann er, Radtouren nach Omaha hinein zu unternehmen.
    Ein einfältiger Junge wäre geradewegs zum Mädchenheim St. Eusebia gefahren und von den dortigen Cops geschnappt worden (wie Sheriff Jones zweifellos erwartet hatte), aber Henry Freeman James war cleverer. Er kundschaftete die Lage des Heims aus, ohne sich ihm jedoch zu nähern. Stattdessen sah er sich nach dem nächsten Süßwarenladen mit einer Eis- und Limonadentheke um. Er vermutete ganz richtig, dass die Mädchen dort hingehen würden, sooft sie konnten (das heißt, wenn sie sich durch Wohlverhalten einen freien Nachmittag verdient hatten und etwas Geld ihr Eigen nannten). Und obwohl die Mädchen aus St. Eusebia keine Schuluniform tragen mussten, waren sie an ihrer uneleganten Kleidung, ihrem gesenkten Blick und ihrem Benehmen - abwechselnd scheu und kokett - leicht zu erkennen. Die mit dickem Bauch und ohne Trauring mussten am auffälligsten sein.
    Ein dummer Junge hätte versucht, an der Limonadentheke mit einer dieser bedauernswerten Evastöchter ins Gespräch zu kommen, was hätte auffallen müssen. Henry postierte sich außerhalb: an der Einmündung einer Gasse, die hinter dem Süßwarenladen und dem Kurzwarengeschäft
nebenan vorbeiführte. Dort saß er auf einer Kiste und las die Zeitung, während sein Rad hinter ihm an der Hauswand lehnte. Er wartete auf ein Mädchen, das etwas abenteuerlustiger war als die anderen, die sich damit begnügten, Eiscreme zu essen oder eine Limonade zu trinken, bevor sie zu den Schwestern zurückeilten. Das bedeutete ein Mädchen, das rauchte. Am dritten Tag tauchte solch ein Mädchen auf.
    Ich habe die junge Frau später ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen. Dazu war nicht allzu viel Spürsinn erforderlich. Henry und Shannon kam Omaha bestimmt wie eine Metropole vor, aber im Jahr 1922 war es nur eine überdurchschnittlich große Kleinstadt im Mittleren Westen mit Großstadtambitionen. Heute ist Victoria Hallett eine ehrbare Ehefrau mit drei Kindern, aber im Herbst 1922 war sie Victoria Stevenson: jung, neugierig, rebellisch, im sechsten Monat schwanger und scharf auf Zigaretten der Marke Sweet Corporal. Sie griff gern zu, als Henry ihr sein Päckchen anbot.
    »Nimm noch ein paar für später mit«, forderte er sie auf.
    Sie lachte. »Das wäre ganz schön plemplem! Wenn wir zurückkommen, filzen die Schwestern unsere Handtaschen und lassen uns alle Taschen umkehren. Weißt du was? Ich muss schon drei Lakritzstangen essen, bloß damit man diese eine Kippe nicht riecht.« Sie tätschelte halb amüsiert, halb trotzig ihren dicken Bauch. »Ich hab Ärger, wie du bestimmt siehst. Böses Mädchen! Und mein Schatz ist abgehauen. Böser Junge , aber das kümmert die Welt nicht! Also hat der

Weitere Kostenlose Bücher