Zwischen Pflicht und Sehnsucht
versiegelte Notiz. Sie brach das Siegel und faltete das Papier auf.
Du hast mir einmal gesagt, Du kennst alle Streiche, die ich in meiner schändlichen Laufbahn gespielt habe. Beweise es. Begib Dich zu dem Ort, wo Rum in Schuhen ausgeschenkt wird .
Rum in Schuhen? Sie wusste, was das bedeutete. Die Schlägerei im Lady’s Slipper. Das war immer eine ihrer Lieblingsgeschichten gewesen.
„Nell!“, rief sie, schon auf dem Weg zur Tür. „Hol unsere Mäntel. Wir gehen aus!“
„Zufällig hab ich sie schon da.“ Nell betrat den Raum mit Sophies liebstem Umhang über dem Arm.
Sophie lachte. „Du bist mir eine, Nell. Gehen wir.“
Die Sonne stand hoch, und eine leichte Brise wehte durch die Straßen der Stadt. Sie stieg mit Nell in eine Droschke und steckte lächelnd die Nase in den duftenden Flieder. Die Fahrt schien endlos. Es herrschte noch mehr Verkehr als sonst, und je näher sie ihrem Ziel kamen, desto langsamer ging es voran. Sophie verlor schnell die Geduld und stieg aus, um zu laufen.
Eine dichte Menschenmenge hatte sich um das Wirtshaus versammelt. Die derben, aber glücklichen Männer sangen, drängten auf die Straße und blockierten den Verkehr. Sophie kämpfte sich zur Tür des Lady’s Slipper durch und blieb stehen, als sie sah, wer sie dort erwartete. Sir Harold Luskison stand hinter dem berüchtigten Schuhkessel und schenkte Rumpunsch aus.
„Dem Himmel sei Dank, Sie sind hier!“, rief er. „Der Wirt tobt und hat gedroht, mich verhaften zu lassen. Aus dem Weg“, verscheuchte er die Männer. „Die Dame hat sich einen Schluck verdient.“
Er schenkte ihr einen Becher herrlich heißen und gefährlich gehaltvollen Punschs ein. Dann reichte er ihr einen Fliederzweig und eine Nachricht. Er grinste sie verschwörerisch an, trat einen Schritt vom Kessel zurück und brüllte: „Er gehört Ihnen, Gentlemen!“ Die Menge johlte vor Freude. Sophie hörte es nicht, sie studierte ihren nächsten Hinweis.
Wenn Du Deinen Durst gestillt hast, zurück an die Arbeit. Hier ist Dein Hinweis: Zum Poeten geboren, doch nie ein Wort verloren .
Sie überlegte. Das sagte ihr nichts. Hastig versuchte sie sich daran zu erinnern, ob Charles sich jemals mit Poesie beschäftigt hatte. Sie zeigte die Notiz Sir Harold, aber der schüttelte nur den Kopf. Dann bat Nell, sie auch sehen zu dürfen. Sie las und blickte mit funkelnden Augen auf.
„Weiß ich zufällig! Ich hab gehört, wie zwei Dienstboten sich in Lady Dayles Küche drüber unterhalten haben. Lord Dayle hat sich als Lord Byron verkleidet und ist bei der Vereinigung der Byron-Anhängerinnen von Mayfair aufgetaucht.“
Sophie schlug sich mit der Hand an die Stirn. „Ich kann nicht glauben, dass mir das entgangen ist.“
„Ich glaube, den Anhängerinnen ist es nicht recht, dass das die Runde macht. Einige von ihnen sind tatsächlich in Ohnmacht gefallen, bevor sie ihn entlarvten.“
„Aber wo, Nell?“ Sophie packte ihre Zofe beim Arm. „Wo treffen sie sich?“
„In dem schicken Buchladen. Hatchards.“
Sophie drückte sie an sich. „Ich weiß nicht, was ich ohne dich täte, Nell! Schnell! Gehen wir!“
Sie fanden ihre Droschke wieder und überredeten den Fahrer zu wenden. Sir Harold fuhr mit ihnen. Schließlich hielten sie vor dem Buchladen.
Miss Ashford stand am Eingang und winkte mit ihrem versiegelten Blatt. Sie wirkte strahlender, als Sophie sie je gesehen hatte, und hielt sich an Mr. Huxleys Arm fest.
„Sophie – große Neuigkeiten!“, rief sie. „Mr. Huxley und ich sind verlobt!“
„Wie wundervoll!“
Miss Ashford reichte ihr das Blatt. „Ich wünsche Ihnen, dass sie ebenso glücklich werden wie wir.“
ADiesmal bestand der Hinweis nur aus einem Satz.
Man trägt wieder Königsblau .
„Westminster!“, rief Sophie.
Endlich hatten sie ihn gefunden. Charles stand am King’s Entrance von Westminster und sprach zu einer Menge. Er hielt einen riesigen Strauß Flieder in den Händen und stand neben dem Standbild König Alfreds. Die Statue war von Kopf bis Fuß blau angestrichen.
Der Wagenschlag wurde geöffnet, und Sophie stieg voller Staunen aus. Lady Dayle und Emily und ihre Famile standen bei Charles und winkten ihr zu. Nur er selbst bemerkte ihre Ankunft offenbar nicht. Lächelnd fuhr er mit seiner Ansprache fort. Sein kastanienbraunes Haar schimmerte in der Sonne.
„… und deswegen ziehe ich mich von der politischen Bühne zurück. Ich bin von allen meinen Ämtern zurückgetreten.“
Sophie dahinschmelzendes Herz erstarrte.
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