Zwischen uns das Meer (German Edition)
vermisste sie so, dass ich es nicht mehr aushielt. Ich wollte sie so sehen, wie ich sie in Erinnerung hatte. Aber das hat nur Betsy verstanden.«
»Ja, bei guten Freunden ist das so«, sagte Jolene leise.
Betsy schluckte hart und starrte sie an. Sie hielt ihr ein Polaroidfoto mit ihrer Familie hin; es zitterte leicht. » Sie ist nie mehr zurückgekommen.«
»Komm zu mir, Betsy«, bat Jolene.
Betsy wirkte erschrocken. Sie klammerte sich an Seths Hand, als befürchtete sie, von einem Wirbelwind hinweggefegt zu werden, wenn sie sie losließe. Das war gar nicht so falsch angesichts dessen, was in diesem Jahr alles geschehen war. Sie alle waren wie Dorothy aus Der Zauberer von Oz von einem Tornado erfasst worden. Wer konnte wissen, wo sie landen würden?
»Ich sag dir was«, erklärte Jolene schließlich. »Wir bringen Seth nach Hause, und dann werden wir beide uns unterhalten.«
»Willst du mich wieder anlügen und erzählen, alles sei in Ordnung?«, fragte Betsy.
»Nein«, antwortete Jolene leise. »Ich werde dich nie mehr anlügen.«
Es dauerte fast eine Stunde, bis nach ihrer Rückkehr alles geklärt worden war und sich alle beruhigt hatten. Die ganze Zeit musste Jolene an Keith Kellers Rat denken: Kehren Sie zu den Menschen zurück, die sie lieben. Es war Zeit, dass Jolene endlich genau das tat. Allerdings hatte sie ziemlich große Angst davor.
Als die Polizei, Carl und Seth schließlich gegangen waren, sah Jolene Betsy an, die in eine dicke Decke gewickelt am Ende der Veranda stand.
»Können wir jetzt reden?«, fragte sie sie leise.
Betsy nickte, obwohl sie ziemlich bedrückt wirkte.
Jolene nahm ihre Tochter bei der Hand und ging mit ihr ins Familienzimmer. Am Sofa löste sich Betsy von ihr und blieb stehen, während Jolene sich hinsetzte. Michael gab beiden einen Kuss und ging nach oben.
Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und dann das Knacken der Dielen im ersten Stock.
Endlich waren sie allein.
»Was hast du zu sagen?«, fragte Betsy, immer noch Abstand wahrend. Ihre Wangen waren von der Kälte gerötet, und ihre Augen verrieten Argwohn. Jolene bemerkte zum ersten Mal die rosafarbenen Perlstecker an ihren Ohren.
Sie runzelte die Stirn. »Hast du dir etwa Ohrlöcher stechen lassen?«
»Ich hab mich schon gefragt, wann dir das auffallen würde. Aber dazu musstest du mich wohl erst mal ansehen.«
»Ich weiß, aber …«
»Du warst nicht da. Und ich bin schon fast dreizehn.«
Das erinnerte Jolene schmerzlich daran, wie viel Zeit mit ihrer Tochter sie verloren hatte und wie viel jetzt zwischen ihnen stand. In Jolenes Abwesenheit war das Leben weitergegangen; Michael hatte ihren Platz als Oberhaupt der Familie eingenommen und Entscheidungen getroffen. Jolene hatte ihre Kinder niemals allein lassen wollen, und doch hatte sie es getan; in gewisser Weise hatte sie sie im Stich gelassen, und das konnte Betsy ihr nicht verzeihen.
»Nein. Ich war nicht da. Und das tut mir leid, Betsy.«
»Das weiß ich.«
»Aber das reicht dir nicht. Was ist es dann?«
Betsy wandte den Blick ab. »Ich will nicht darüber reden.«
»Komm her, Schatz.«
Steif trat Betsy einen Schritt vor.
»Noch näher.«
Betsy schüttelte den Kopf.
»Du bist wütend auf mich, weil ich weggegangen … und verwundet worden bin.«
Betsy zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon.«
Jolene wandte nicht den Blick ab, obwohl sie den Schmerz in den Augen ihrer Tochter kaum ertragen konnte. »Ich weiß, ich bin nicht die Mom von früher, die Mom, die du dir wünschst. Ich weiß auch, dass du wütend auf mich bist. Und das habe ich auch verdient, Betsy. Nicht weil ich in den Krieg gezogen bin. Das musste ich. Sondern dafür, wie ich seit meiner Rückkehr war.« Sie stand auf, bemühte sich, nicht zu humpeln, und griff nach Betsys warmer, weicher Hand. »Es tut mir leid, dass ich dir Angst eingejagt und dich in Verlegenheit gebracht habe.«
Betsys Augen füllten sich mit Tränen. »Ich hab Tamis letzten Brief an Seth gelesen. Hast du mir auch einen geschrieben?«
Am liebsten hätte Jolene jetzt gelogen und gesagt: Natürlich nicht, ich wusste ja, dass ich dich nie allein lassen würde, aber sie wollte ihr Leben nicht mehr in hübsches Geschenkpapier packen und lügen. »Ja, das habe ich. Noch nie ist mir etwas so schwer gefallen. Allein die Vorstellung, dich, Lulu und deinen Dad allein zu lassen!«
»Was steht drin?«
»Ganz viel. Geschichten und Ratschläge, glaube ich. Ich habe versucht, dir alles zu schreiben, was dir
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