Zwischen uns das Meer (German Edition)
war.
Er nahm die Mutter bei der Hand und zerrte sie durch die Küche. Benommen, aber mit einem dümmlichen Grinsen stolperte sie hinter ihm her und merkte offenbar nicht, dass sie barfuß war.
Erst als er die Hintertür öffnete, begriff Jolene. »Nein!«, schrie sie, sprang auf und rannte ihnen nach.
Draußen war es dunkel und eiskalt. Der Februarregen prasselte aufs Haus und lief in Rinnsalen über das Dachgesims. Der geleaste Langholztransporter ihres Dads, das Einzige, was ihm wirklich wichtig war, stand wie ein riesiges schwarzes Insekt in der Einfahrt. Jolene rannte auf die Holzveranda, stolperte über eine Kettensäge und richtete sich wieder auf.
Ihre Mom hielt an der offenen Beifahrertür inne und sah zu ihr herüber. Der Regen klatschte die Haare an ihre hohlen Wangen und ließ die Wimperntusche verlaufen. Sie hob zittrig ihre bleiche Hand und winkte.
»Raus aus dem Regen, Karen«, brüllte der Vater, worauf ihre Mutter sofort gehorchte. Innerhalb einer Sekunde schlugen beide Wagentüren zu. Der Laster wurde zurückgesetzt, auf der Straße gewendet und fuhr davon.
Und Jolene war wieder allein.
Vier Monate noch , dachte sie dumpf. Nur noch vier Monate und sie bekäme ihren High-School-Abschluss. Dann könnte sie weg von zu Hause.
Zu Hause. Was auch immer das hieß.
Doch was sollte sie dann machen? Wo sollte sie hin? Fürs College war kein Geld da. Alles, was Jolene sich zusammengespart hatte, hatten ihre Eltern stets gefunden und sich »geliehen«. Sie hatte nicht mal genug für die erste Monatsmiete.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort stand, nachdachte, sich sorgte und zusah, wie die Auffahrt im Regen schlammig wurde; sie wusste nur, dass sie irgendwann etwas in der Dunkelheit aufblitzen sah.
Rot. Die Farbe, die für Blut, Feuer und Verlust stand.
Als der Streifenwagen vorfuhr, war sie nicht überrascht. Es überraschte sie nur, was sie empfand, als sie hörte, dass ihre Eltern tot waren.
Und es überraschte sie, wie heftig sie weinen musste.
E INS
A PRIL 2005
An ihrem einundvierzigsten Geburtstag wachte Jolene Zarkades wie jeden Tag vor Morgengrauen auf. Vorsichtig, um ihren schlafenden Mann nicht zu stören, stand sie auf, zog sich ihre Joggingklamotten an, band ihre langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und verließ das Haus.
Es war ein wunderschöner Frühlingstag mit strahlend blauem Himmel. Die Pflaumenbäume, die ihre Einfahrt säumten, standen in voller Blüte. Winzige rosafarbene Blüten schwebten über die sattgrüne Wiese. Jenseits der Straße leuchtete der Puget Sound in einem dunklen Blau. Dahinter ragten die schneebedeckten Olympic Mountains majestätisch in den Himmel.
Die Sicht war perfekt.
Sie lief genau dreieinhalb Meilen an der Uferstraße entlang, bevor sie umkehrte. Zu Hause angelangt, war sie außer Atem und hatte einen hochroten Kopf. Auf der Veranda bahnte sie sich ihren Weg an zusammengewürfelten Gartenmöbeln aus Holz und Rattan vorbei ins Haus, wo sich verlockend aromatischer Kaffeeduft mit der bitteren Note von Holzrauch vermischte.
Als Erstes schaltete sie den Fernseher in der Küche ein; er war auf CNN eingestellt. Während sie sich einen Kaffee einschenkte, wartete sie ungeduldig auf Neuigkeiten vom Krieg im Irak.
An diesem Morgen wurde kein schweres Gefecht gemeldet. Über Nacht waren keine Soldaten – oder Freunde – getötet worden.
»Gott sei Dank«, sagte sie. Mit dem Kaffee ging sie nach oben, vorbei an den Zimmern ihrer Töchter, und strebte zum Schlafzimmer. Es war noch früh. Vielleicht sollte sie Michael mit einem langen Kuss wecken. Als Einladung.
Wie lange war es her, dass sie sich morgens geliebt hatten? Wie lange lag das letzte Mal überhaupt zurück? Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Ihr Geburtstag wäre doch die perfekte Gelegenheit, dies zu ändern. Sie öffnete die Tür. »Michael?«
Ihr überdimensionales Bett war leer. Ungemacht. Michaels schwarzes T-Shirt, in dem er immer schlief, lag unordentlich auf dem Boden. Sie hob es auf, faltete es akkurat zusammen und legte es weg. »Michael?«, rief sie noch einmal und öffnete die Badezimmertür. Dampf wallte heraus, so dass sie nichts sehen konnte.
Das Bad war ganz in Weiß gehalten. Die Glastür zur Dusche stand offen und gab den Blick auf die leere Kabine frei. Ein feuchtes Handtuch war zum Trocknen nachlässig über den Badewannenrand geworfen worden. Der Spiegel über dem Waschbecken war beschlagen.
Er wird schon unten sein, sagte sie sich. Wahrscheinlich im
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