Zwischen uns das Meer (German Edition)
kommen?«
Sie zögerte und blickte zu Michael, der lächelnd nickte. »Na gut«, sagte sie.
Sie folgte Chris in ein kleines, schön eingerichtetes Zimmer im hinteren Teil des Hauses. Zu ihrer Erleichterung sah sie keine Couch. »Ich weiß nicht genau, wie das hier läuft«, meinte sie, als sie in dem bequemen Sessel neben seinem Schreibtisch Platz nahm.
»Aber ich, denn ich habe einige Erfahrung damit«, erwiderte er lächelnd. »Wir können eigentlich überall anfangen. Bei ihrer Kindheit, Ihren Erfahrungen im Irak, Ihrer besten Freundin, Ihrer Zukunft als Zivilistin. Sie entscheiden, worüber Sie zuerst reden möchten.«
Jolene lachte nervös. »Das klingt ja, als hätten wir eine ganze Weile miteinander zu tun.«
»Nur so lange Sie mögen, Jolene. Sie sind hier der Chief; ich bin nur einfacher Soldat. Sie führen, ich folge.«
Sie hatte Angst, das Thema vorzugeben. Das war ihnen beiden klar. Aber sie hatte sich früher schon von Angst leiten lassen, und sie war ihr ein schlechter Ratgeber gewesen. »Wenn die Leute mein amputiertes Bein sehen, glauben sie, das wäre das Problem. Aber ich habe viel mehr verloren. Manchmal habe ich keine Ahnung, wer ich sein oder wie mein zukünftiges Leben aussehen soll. Ich war eine gute Soldatin. Ich halte mich gerne an klare Regeln.«
»Wann sind Sie zur Armee gegangen, Jolene?«
»Mit achtzehn. Da war ich ganz allein auf der Welt und hatte kein Geld. Die Armee hat mir einen Platz geboten, an den ich gehören konnte.«
»Eine Familie.«
»Ja«, bestätigte sie nach kurzem Zögern.
»Aber eine Familie, in der man sich leicht zurechtfindet, nicht wahr? Für jede Situation und jedes Verhalten gibt es Regeln. In dieser Familie haben verletzte Gefühle und gebrochene Herzen keinen Platz. Man weiß immer, wer man ist und was man zu tun hat. Wenn man in Schwierigkeiten ist, ist die eigene Einheit immer für einen da. Man weiß, dass man niemals zurückgelassen wird.«
Jolene spürte, wie sie sich ein wenig entspannte. Er verstand sie. Vielleicht konnte sie endlich – endlich - aufrichtig von ihrer schmerzlichen Vergangenheit erzählen. Und wenn sie es bei ihm konnte, konnte sie es vielleicht auch irgendwann bei Michael, und dann wäre Heilung möglich. »Darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich.«
»Sie waren Kriegsgefangener. Also haben Sie eine Menge durchgemacht. Woran erkannten Sie, dass Sie das Schlimmste hinter sich hatten?«
»Eine ausgezeichnete Frage. Nach meiner Rückkehr war ich jahrelang wütend. Es waren verlorene Jahre. Ich glaube, ich wusste, dass meine Heilung begann, als ich bereit war, anderen zu helfen.«
Jolene wusste, wie das passieren konnte: wie man einfach in Wut, Trauer, Depression oder Schuldgefühlen versinken und darin ertrinken konnte. Sie dachte an die Briefe, die sie in der Reha bekommen hatte, vor allem an den von der jungen Soldatin Sarah, die ihr Bein verloren hatte. Diese Bitte um Hilfe hatte sie einfach missachtet. »Früher war ich jemand, der anderen geholfen hat.«
»Das können Sie wieder sein, Jolene.«
»Ist gut. Dann möchte ich mit den Alpträumen anfangen …«
Am zweiten Freitag im Dezember wachte Lulu früh auf, ging schnurstracks zum Fenster ihres Zimmers und drückte die Nase ans Glas. »Kein Schnee«, jammerte sie.
»Vielleicht wartet Gott bis Weihnachten«, sagte Jolene. »Weiße Weihnacht wäre doch toll, findest du nicht?«
Lulus schmale Schultern sackten nach vorn, als sie sich vom Fenster abwandte. »Eigentlich wollte ich nicht in die Schule.«
»Aber du gehst doch so gerne dahin, Lulu.«
»Ja, schon«, erwiderte sie bedrückt. »Aber ich wollte heute mit dir fahren.«
Jolene nahm ihre jüngere Tochter in die Arme, küsste sie auf die Wange und gab ihr einen sanften Klaps auf den Po. »Anziehen, Süße. Du wirst mein schönes, neues Bein noch früh genug sehen. Überraschungen sind doch was Tolles, oder?«
»Ja, schon«, wiederholte Lulu, klang aber gar nicht überzeugt.
»Gut, dann lass uns jetzt deine Schwester wecken. Du weißt doch, sie wird wild, wenn wir spät dran sind.«
Jolene und Lulu gingen durch den Flur zu Betsys Zimmer, weckten sie und begaben sich dann alle drei gemeinsam nach unten.
Heute sollte es Haferbrei geben.
»Cap’n Crunch«, forderte Lulu und kletterte auf ihren Stuhl. »Weil es heute ein besonderer Tag ist.«
Jolene lächelte ihre Töchter an. »Weißt du was, Lulu, da hast du recht.«
Michael kam nach den Mädchen in die Küche geschlurft. Er war zerzaust und verschlafen.
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