Zwischen uns das Meer (German Edition)
sein Kuss schmeckte.
»Darf ich dir eine Frage stellen?«, erkundigte er sich, als sie nachher, immer noch schwer atmend, beieinanderlagen.
»Selbstverständlich.«
»Wieso hast du nie meinen Brief beantwortet?«
»Welchen Brief?«
»Den Brief, den ich dir kurz vor deinem Absturz in den Irak geschickt habe.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich hab nie einen Brief von dir erhalten. In jener letzten Woche waren wir fast pausenlos unterwegs, hatten ununterbrochen Flüge, und unser Internetzugang brach ständig zusammen. Als ich wieder zu Hause war, öffnete ich ein einziges Mal mein E-Mail-Account: Ich hatte Hunderte von Beileidsbekundungen wegen meines Beins. Aber ich brachte es nicht über mich, sie zu lesen. Seitdem war ich eine Ewigkeit schon nicht mehr am Computer. Was stand denn drin?«
»Dass ich eine zweite Chance wollte.«
Sie versuchte sich vorzustellen, was ihr das damals, als sie fern von zu Hause gewesen war, bedeutet hätte. Hätte sie ihm geglaubt? »Wie hast du dich denn wieder in mich verliebt, während ich weg war?«, fragte sie, eng an ihn geschmiegt, mit dem Kinn auf seiner Schulter.
Er ließ seinen Arm unter sie gleiten und zog sie noch näher an sich. »Nach Dads Tod war ich deprimiert, und du warst immer so verdammt optimistisch. Du gabst mir Ratschläge, die ich nicht befolgen konnte. Zum Beispiel ›immer positiv denken‹, ›sich an das Schöne erinnern‹. Ehrlich gesagt, hasste ich diese Sprüche.« Er sah sie an. »Ich war unglücklich, und es war leicht, dir die Schuld in die Schuhe zu schieben.«
»Ich dachte, man könnte Trauer einfach durch reine Willenskraft bezwingen. Das hab ich mit meinen Eltern gemacht. Jedenfalls dachte ich das. Aber ehrlich gesagt, kannte ich zwar das Gefühl, jemanden zu verlieren, aber nicht das, um jemanden zu trauern. Das kenne ich erst jetzt.« Sie blickte zu ihm hoch. »Ich hab dich im Stich gelassen.«
Langsam und liebevoll drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. »Und ich habe dich im Stich gelassen.«
»Dieses Mal müssen wir mehr miteinander reden«, sagte Jolene. »Wirklich miteinander sprechen.«
Er nickte. »Ich würde gern mehr über den Irak erfahren. Ist dir das möglich?«
Ihr erster Impuls war zu sagen: Nein, davon willst du nichts wissen , um ihn zu schützen. »Ich kann dir anbieten, dass du mein Tagebuch lesen darfst«, antwortete sie stattdessen. »Und ich muss auch mit deinem Psychiater reden. Ich glaube, ich brauche Hilfe.«
»Du wirst es schaffen, Jo. Du bist der stärkste Mensch, den ich je kennengelernt habe.«
»Und Betsy? Wie bringe ich sie dazu, mir zu verzeihen?«
Er lächelte. »Du hast Hubschrauber im Krieg geflogen. Da wirst du doch wohl mit einer zornigen Zwölfjährigen klarkommen.«
»Da ziehe ich lieber wieder in den Krieg.«
Sie lachten noch, als jemand an die Tür klopfte. Oder eher hämmerte.
Michael stand auf, schnappte sich seine Hose und zog sie an. Er knöpfte sie noch zu, während er die Tür öffnete. »Ma.« Er grinste.
»Es geht um Betsy«, sagte Mila. Sie trug Lulu auf dem Arm, die den Kopf an ihre Schulter drückte. »Sie ist weg. Wir können sie nirgendwo finden.«
»Was soll das heißen?«, fragte Michael, hob ein T-Shirt vom Boden auf und streifte es über den Kopf. »Sicher ist sie im Garten oder irgendwo in der Nähe.«
»Sie ist weg?«, fragte Jolene und drückte das Laken an ihren nackten Busen. Sie wusste nicht, wie Michael die Ruhe bewahren konnte.
Mila sah Jolene mitfühlend an. »Nach dem … Vorfall bei Tami wurde ziemlich viel geredet. Die Leute machen sich Sorgen um dich, Jolene. Jedenfalls tröstete ich Lulu, die ständig fragte, wieso du dich auf den Boden geworfen hast. Als ich sie beruhigt hatte, suchte ich nach Betsy. Es dauerte ziemlich lange, das Haus mit all den Gästen zu durchsuchen, aber fest steht, dass sie und Seth weg sind. Wir haben überall nachgesehen. Carl dreht bald durch.«
»Ich guck mal hier nach«, sagte Michael.
Er rannte aus dem Zimmer. Jolene stand auf und ging zu ihrer Kommode. Sie nahm eine Jeans und einen weißen Pulli heraus und zog sich so schnell wie möglich an. Michael kam mit ihrer Prothese zurück, dann gingen sie die Treppe hinunter. Schritt, nachziehen, Gewicht verlagern. Schritt, nachziehen, Gewicht verlagern. Nie hatte sie ihr künstliches Bein mehr behindert.
Carl wartete schon mit gehetzter Miene im Familienzimmer. Mila stand mit Lulu auf dem Arm bei ihm.
»Sie sind weggelaufen«, sagte Carl zu Jo. »Ich hörte sie noch miteinander
Weitere Kostenlose Bücher