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Zwischen uns die Zeit (German Edition)

Zwischen uns die Zeit (German Edition)

Titel: Zwischen uns die Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamara Ireland Stone
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auftaucht, sehe ich den Mann in der grünen Weste. Mit hin- und herschwingenden Pferdeschwänzen– seiner ist grau, meiner dunkel und gelockt– joggen wir aufeinander zu und heben grüßend die Hand. » Morgen!«, keuche ich im Vorbeilaufen.
    Über dem See geht gerade langsam die Sonne auf, während ich auf das Fußballstadion zuhalte. Sobald meine Füße Kontakt mit dem elastischen Kunststoffbelag der Bahn aufnehmen, spüre ich einen neuen Energieschub, der mich automatisch schneller werden lässt. Etwa auf der Hälfte der Strecke spielt mein Discman, den ich auf Zufallswiedergabe gestellt habe, einen Song, der mich auf einen Schlag wieder ins Coffeehouse zurückkatapultiert, wo ich gestern auf einem Konzert war. Schon als die Band die ersten Akkorde dieses Songs anschlug, explodierte der Saal förmlich. Alle Leute im Publikum, einschließlich mir selbst, begannen wie aufs Stichwort ekstatisch auf und ab zu hüpfen und im Takt der Musik die Haare zu schütteln. Die feine Linie, die uns Jugendliche aus dem Ort normalerweise von den Studenten der Northwestern University trennt, hörte plötzlich auf zu existieren, und wir waren Gleiche unter Gleichen. Ich drehe den Kopf, um mich zu vergewissern, dass ich auch wirklich allein bin– auf den Plätzen der Tribüne ist nichts als die dicke, noch völlig unberührte Schneedecke zu sehen–, und singe den Refrain dann aus voller Lunge in den Wintertag hinaus.
    Während ich Runde um Runde drehe, scheinen meine Beine mich irgendwann wie von selbst zu tragen, mein Herz hämmert gegen die Rippen und meine Arme schwingen in gleichmäßigem Tempo wie die Kolben eines Motors. Ich atme arktische Luft ein und weiße Dampfwölkchen aus. Genieße meine dreißig Minuten Einsamkeit, in denen es nur mich, die Strecke, meine Musik und meine Gedanken gibt. Dreißig Minuten, in denen ich vollkommen allein bin.
    Denke ich zumindest. Bis ich auf einmal bemerke, dass ich es doch nicht bin. Auf einer der Tribünen hockt ein junger Mann in einem schwarzen Parka hüfttief im Schnee. Er ist gar nicht zu übersehen. Das Kinn in die Hand gestützt sitzt er einfach da und beobachtet mich mit einem kleinen Lächeln im Gesicht.
    Ich sehe ihn aus dem Augenwinkel, laufe aber weiter, als würde ich seine Anwesenheit in meinem Refugium gar nicht wahrnehmen. Mit seinen zerzausten, fast kinnlangen dunklen Haaren und den noch jungenhaft weichen Gesichtszügen sieht er aus wie ein Student der Northwestern, vielleicht einer aus dem ersten Semester. Er macht jedenfalls nicht den Eindruck, als wäre er gemeingefährlich, und außerdem könnte ich ihm locker davonlaufen.
    Und wenn nicht?
    Ich denke an die erste Lektion, die wir in dem Selbstverteidigungskurs gelernt haben, bei dem mein Vater mich sofort angemeldet hat, als ich ankündigte, ich würde von nun an im Morgengrauen alleine laufen gehen. Man muss dem Gegenüber das Knie in die Weichteile rammen und gleichzeitig mit der flachen Hand auf die Nase schlagen. Aber vor allem wurde uns beigebracht, dass man eine direkte Konfrontation oft verhindern kann, indem man einem potenziellen Angreifer deutlich zu erkennen gibt, dass man ihn bemerkt hat, statt so zu tun, als würde man ihn nicht sehen– was in der Theorie einfacher klingt, als es tatsächlich ist.
    Als ich das nächste Mal an dem Typen vorbeikomme, nicke ich ihm zu und bedenke ihn dabei mit einem Blick, der wahrscheinlich eine widersprüchliche Mischung aus Unsicherheit und Trotz ausstrahlt– so als würde ich ihn warnen, mir bloß nicht zu nahe zu kommen, und gleichzeitig Panik davor haben, er könnte es doch tun. Ich sehe, wie sich seine Miene verändert: Das Lächeln verschwindet und jetzt sieht er plötzlich traurig und geknickt aus, als hätte ich ihm mit meinem bloßen Blick einen Schlag in den Magen versetzt.
    Bei der nächsten Runde sehe ich direkt in seine Richtung, als ich mich erneut der Tribüne nähere, in der er sitzt. Er lächelt wieder, zögerlicher als vorher, aber irgendwie so, als würde er mich kennen. Jedenfalls ist es das offene, sympathische Lächeln von jemandem, den man gern kennenlernen würde. Und ich kann nicht anders, als es zu erwidern.
    Immer noch lächelnd, drehe ich mich kurz vor der nächsten Biegung mitten im Laufen noch einmal nach ihm um.
    Er ist verschwunden.
    Verwirrt lasse ich den Blick durchs Stadion schweifen, kann ihn aber nirgendwo mehr entdecken und sprinte ohne zu überlegen auf die Tribüne zu. Einen Moment zögere ich, dann nehme ich all meinen Mut

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