Zwischen uns die Zeit (German Edition)
den er mir hinhält. » Ist Mom schon weg?«
» Sie hat heute Frühdienst.« Er sieht zu, wie ich an meinem heißen Kaffee nippe, und wirft dann einen Blick aus dem Küchenfenster. » Draußen ist es immer noch ziemlich dunkel. Wo warst du heute laufen?« Er klingt besorgt.
» Auf dem Unigelände. Wie immer.« Von dem Typen auf der Tribüne erzähle ich ihm natürlich kein Wort. » Es ist wahnsinnig kalt… die ersten paar Kilometer waren echt hart.« Ich greife nach der Packung Kellogg’s Raisin Bran, schütte etwas davon in eine Schüssel, gieße Milch dazu und setze mich dann auf einen der Hocker an der Küchentheke. » Du weißt, dass du jederzeit gerne mitkommen kannst.« Ich grinse, weil ich seine Antwort schon kenne.
Er sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. » Wenn du mich irgendwann im Juni morgens weckst, komme ich mit. Vorher kriegst du mich um diese Uhrzeit nicht aus meinem warmen Bett. Ich bin doch kein Masochist.«
» Aber ein Weichei.«
» Stimmt.« Er nickt und prostet mir mit seinem Kaffeebecher zu. » Ja, ich gebe es zu: Ich bin ein Weichei. Ganz im Gegensatz zu meiner Annie.« Er schüttelt mit gespielter Verzweiflung den Kopf. » Ich habe ein Monster erschaffen.« Dad ist schuld daran, dass ich so laufverrückt bin. Als Schüler hat er die State Championship von Illinois im Crosslauf gewonnen. Jetzt, wo seine glorreichen Tage als aktiver Sportler lange hinter ihm liegen, ist er der stolze Vater, der im Cordjackett am Ende der Crosslaufstrecke steht, in die Hände klatscht und seine Tochter mit einer Stimme antreibt, die laut genug ist, die mächtigsten Eichen im Wald erzittern zu lassen– » Lauf, Annie, lauf!« Auch wenn er mir oft unglaublich peinlich ist, finde ich es gleichzeitig süß, dass er mich so unterstützt. Deswegen ist er auch der einzige Mensch auf der Welt, dem ich erlaube, mich immer noch Annie zu nennen.
Dad verschwindet hinter seiner Zeitung, während ich meinen Kaffee trinke und die Raisin Brans löffle. Im Gegensatz zu meiner Mutter, der es sehr schwerfällt, Stille zu ertragen, lässt Dad sie mit uns am Tisch sitzen wie ein vertrautes Familienmitglied. Irgendwann durchbricht das laute Hupen von Emmas Wagen die Ruhe.
» Da ist deine Engländerin ja schon.« Dad lässt kurz seine Zeitung sinken und winkt mir zum Abschied zu.
Emma Atkins’ glänzender neuer Saab steht mit laufendem Motor in der Einfahrt. Ich schlittere über den gefrorenen Boden darauf zu, reiße die Beifahrertür auf und lasse mich mit einem erleichterten Seufzen in das per Sitzheizung vorgewärmte Lederpolster sinken.
» Guten Morgen, Darling«, begrüßt mich meine beste Freundin mit ihrem krassen britischen Akzent, den sie sich nach all der Zeit, die sie schon hier lebt, immer noch bewahrt hat. Sie legt schwungvoll den Rückwärtsgang ein und setzt aus der Einfahrt, ohne nach hinten zu sehen.
Emma ist einer der schönsten Menschen, die ich kenne. Zum Glück ist sie gleichzeitig auch so cool, dass sie das nie jemanden spüren lassen würde. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwarten würde, als ich in der achten Klasse von der staatlichen Highschool an die noble Westlake Academy überwechselte, mich in das Heer der Zahnspangenträger und Pickelgesichter einreihte und plötzlich feststellte, dass das hübscheste Mädchen der Schule sich um meine Freundschaft bemühte. Obwohl Emma gebürtige Engländerin ist, sieht sie mit ihren hohen Wangenknochen und den funkelnden dunklen Augen eher wie ein brasilianisches Supermodel aus. Keine Ahnung, was sie damals an mir fand. Ich sah ziemlich unauffällig aus und interessierte mich vor allem für Sport, aber ich fühlte mich natürlich geschmeichelt und nach ein paar Wochen waren wir unzertrennlich.
» Weißt du schon das Neueste?«, sprudelt es aus ihr heraus, als hätten die Worte bereits seit Stunden ungeduldig darauf gewartet, endlich freigelassen zu werden.
Ich sehe sie grinsend von der Seite an. » Als ob ich jemals die Chance hätte, irgendetwas vor dir zu erfahren. Na los, befreie mich von meiner Ahnungslosigkeit.«
Emma ist über alles, was an der Westlake Academy vor sich geht, immer perfekt informiert, weil sie im Organisationskomitee für den Schulball sitzt und beste Verbindungen zu den Sekretärinnen hat, aus denen sie mit ihrem sagenhaften Charme sämtliche Informationen herauskitzelt. Das ist so eine Art Naturtalent, mit dem sie geboren wurde. Sie kann jeden Menschen dazu bringen, ihr die intimsten Geheimnisse zu verraten.
» Heute
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