Zwischen zwei Nächten
anderen Gäste lassen die beiden deutlich spüren, daß sie nicht dazugehören. Auch deshalb setzt sich Ann-Marie zu ihnen.
Frau Maricek hat nicht nur am Telefon um Anna geweint, sondern auch heute am Grab. Außerdem weiß sie am besten, wie sich Anna während der letzten Tage gefühlt hat, was sie gemacht hat.
„Wenn die Mariceks weg sind, schau ich auf einen Sprung ins Büro und bespreche mit Alfred, falls er zufällig einmal da ist, die laufenden Projekte. Aber im Grunde interessiere ich mich kaum mehr für die Arbeit, und das weiß er auch.“
„Hältst du das für klug? Ich würde ihm mein Desinteresse nicht so offen zeigen. Er versucht bestimmt, dich zu übervorteilen.“
„Und wenn schon? Mir ist das völlig egal. Du hast keine Ahnung, wie gleichgültig ich geworden bin. Mich kann wirklich nichts mehr erschüttern. Mittags gehe ich manchmal mit den Angestellten essen, vor allem, wenn diese Margot dabei ist. Es macht mir Spaß, die Ahnungslose zu spielen, und ich unterhalte mich immer besonders nett mit ihr. Du kennst mich, ich kann sehr charmant sein, wenn ich will, aber auch sehr herablassend.“
„Und deine Rivalin muß natürlich deine Freundlichkeit erwidern, schließlich ist sie von dir abhängig.“
Anna schenkte ihr einen leicht irritierten Blick, sprach aber weiter: „Die Nachmittage verbringe ich, falls es mir gelingt, alle Verabredungen abzusagen, in meinem Zimmer. Ich lese oder schreibe Tagebuch wie in meiner Jugend, schreibe Gedanken nieder, die ich nicht einmal auf der Couch auszusprechen wage. – Weißt du, daß ich seit zwei Jahren eine Analyse mache? – Ja, und sonst übe ich mich im Nichtstun, eine herrliche Beschäftigung! Wenn mir die Decke auf den Kopf zu fallen droht, fahre ich einfach mit dem Wagen in der Gegend herum. Lange Zeit hat mein einziges Vergnügen darin bestanden, gelegentlich ins Kino zu gehen. Auch heute noch sehe ich mir am liebsten alte Filme an, und zwar allein, so erspar’ ich mir geistreiche Kommentare und kann meinen Tränen hemmungslos freien Lauf lassen. Taschentuch und Schokolade habe ich immer dabei. Meistens besuche ich die Nachmittagsvorstellungen, setze mich in die letzte Reihe zu den ganz jungen Liebespärchen …“
„Du bist schon immer ein kleiner Voyeur gewesen.“
Anna schien diese Bemerkung mißzuverstehen.
„Selbstverständlich durchschaue ich die verlogene Romantik dieser Hollywoodschinken und auch meine eigenen sentimentalen Gefühle. Trotzdem gelingt es mir nicht, mich dieser flimmernden Scheinwelt zu entziehen.“
„Und du hoffst, daß, wenn du in die Jahre kommst, im Bellaria-Kino – gibt es das überhaupt noch? – statt Willi Forst und Hans Moser James Dean und Marlon Brando auf der Leinwand erscheinen werden.“
„Genau, du sagst es.“
Ann-Marie braucht Frau Maricek nicht lange zu bitten. Bereitwillig erzählt sie von dem schrecklichen Ereignis. Manchmal mischt sich ihr Sohn ins Gespräch, korrigiert sie oder vervollständigt ihren Bericht.
Ann-Marie hört aufmerksam zu. Sie trägt immer noch die große Sonnenbrille und wirkt reichlich deplaziert neben der älteren, ordentlich gekleideten Frau. Selbst der Junge hat einen dunkelblauen Anzug an, aus dem er allerdings längst herausgewachsen ist. Die Hosenbeine reichen ihm nur knapp bis zu den Knöcheln.
Frau Maricek wundert sich, daß Alfred in jener Nacht nicht zu Hause war.
„Er hätte doch seine Frau am nächsten Morgen zum Flughafen bringen sollen. Jedenfalls finde ich, daß sich das gehört hätte, auch wenn er bös’ auf sie war. Ich bin gleich rübergegangen, als ich von dem Unglück erfahren habe. So was spricht sich in der Nachbarschaft schnell herum, und ich wohne ja nur zwei Straßen weiter. Verabschiedet habe ich mich von ihr schon am Sonntag, hab ihr einen selbstgebackenen Gugelhupf als Abschiedsgeschenk mitgebracht.“
Sie schneuzt sich in ihr blütenweißes Taschentuch und wischt sich dann damit das tränennasse Gesicht ab.
Ann-Marie schenkt ihr Wein nach.
„Trinken Sie einen Schluck, das beruhigt.“
Die halbvollen Weingläser standen noch auf dem Couchtisch, sie hatten nur daran genippt. Auf nüchternen Magen vertrugen sie, trotz ihrer Trinkfestigkeit, noch keinen Wein.
„Möchtest du vielleicht ein Bier?“
Anna erinnerte sich, daß ihre Freundin eine leidenschaftliche Biertrinkerin war, und holte eine Flasche Gösser Spezial aus dem Kühlschrank.
„Gläser findest du im Schrank, und der Öffner hängt an der Wand, gleich neben dem
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