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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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erstaunliches Wort, das da im alten Angermannshaus aufstieg und unter der Balkendecke hängenblieb wie mit Flügeln.
    »Ja, ja, Kola, ja«, sagte Elisabeth wieder. Sie war sehr erschöpft, sehr unglücklich, aber auf eine unbeschreibliche Weise zufrieden dabei. ›Ich habe geglaubt, ich kann es‹, dachte sie. ›Aber ich kann es nicht. Ich gehöre nicht dorthin – ich gehöre hierher …‹
    Als hätte sie versucht, eine schwere Tür zu heben und ließe sie wieder zufallen; als wäre sie gegen die Strömung geschwommen und ließe sich wieder treiben. Als wäre sie im Gewitter gestanden und käme heim.
    Es ist eine merkwürdige Sache um die Ehe, wie sie ist, alt, älter als der Angermannsturm und baufälliger als das Angermannshaus. Eine Ehe wie die von Doktor Persenthein und seiner Frau, gewiß keine schlechte Ehe, aber auch nicht gerade ein Lebensfest oder eine Illumination. Nicht glücklich, nicht unglücklich. Eine von den hunderttausend mittelmäßigen Ehen, in denen der Mann mürrisch ist und die Frau überanstrengt, in der viel von Sorgen und wenig von Liebe gesprochen wird, eine Ehe mit vielen Selbstverständlichkeiten und gar keinen Überraschungen, ein wenig hoffnungslos, nicht wahr, mit verhängten Horizonten, ohne Ausblick, wie ein Haus ohne Türen und Fenster. Mit der täglichen Nähe und der unentrinnbaren Fremdheit geschlagen, zu der Männer und Frauen seit Paradieseszeiten her verurteilt sind; ein merkwürdiges Ding, die Ehe, angegriffen und angreifbar, brüchig und absurd in den Fundamenten, gefährdet von allen Seiten. Ein Kartenhaus, wenn es gut geht, eine Galeere für Freiwillige in schlimmen Fällen.
    Laßt irgend etwas daherkommen, das an die Ehe rührt – es braucht kein großes Wunder zu sein, ein kleiner Zwischenfall müßte genügen, eine flüchtige Störung, ein Licht, ein Wegweiser in andere Richtungen, ein anderer Mensch, eine andere Hoffnung, ein anderer Weg ins Leben hinaus: Die Ehe müßte zusammenfallen, nicht wahr?
    Aber sie hält, Doktor Persentheins Ehe hält, hunderttausend Ehen halten, sie haben den Lebenswillen und die Unverwüstbarkeit und den zähen Bestand von Pflanzen, die auf Steinen wachsen und harte Bedingungen lieben – und so bleibt denn nur anzunehmen, daß dennoch und trotz allem tiefere Kräfte in der Ehe wirksam sind, tiefere und höhere und Kräfte jedenfalls, die das Beste im Menschen angehen: Kräfte, die man ewig nennen kann – solang die kurze Ewigkeit auf diesem kühlen, kleinen Stern eben dauern mag, der unsere Heimat ist …
    Die Kirchenuhr schlug sechs. Im Kinderbett nebenan atmete Rehle tief und gleichmäßig. Oben begann Lungaus strebsam zu rumoren. Und gleich darauf klingelte unten das Telefon, und die aufgeregte Stimme des Kaufmanns Keitler heischte nach dem Doktor.
    Zu ungewohnter Zeit fuhr ein Auto durch das Stadttor, und das Angermannshaus begann zu zittern. Frau Persenthein, die im Wohnzimmer aufräumte, trat mit dem Besen in der Hand ans Fenster und sah hinunter. Sie hatte das alte, dreieckige Wolltuch umgebunden und die Enden am Rücken verknotet, denn der Tag war von einer klaren Kühle, und sie fror nach der durchwachten Nacht. Es war ein Schaffenburger Wagen, der unten in die Stadt einfuhr, und es saßen drei fremde Herren darin. Frau Persenthein begab sich geistesabwesend wieder ans Fegen, in ihr war ein Zustand vollständiger Leere, wie er zuweilen eintritt, wenn eine Seele an die Grenzen ihrer Kraft gegangen ist und sich erholen muß. Sie trat auf die Treppe hinaus und rief hinunter: »Die Milch nicht anbrennen lassen, Marie!«
    Denn Marie, die kleine, unzuverlässige Aushilfe, hatte sich an diesem Morgen wieder eingefunden, und sie war nicht die einzige in Lohwinckel, die sich bei der Arbeit einstellte. Auch Lungaus war rechtzeitig abgetrabt, eine gute Viertelstunde bevor die Fabriksirene über den ausgebrannten Schuppen zu heulen begann. Ohne daß die Arbeiterschaft sich besprochen hätte, waren sie vollzählig da, und die, deren Arbeitsplatz abgebrannt war, standen abwartend im Hof, schnüffelten die bittere Luft und sprachen wenig. Für zehn Uhr vormittag hatte Herr Profet eine Verhandlung mit dem Betriebsrat angekündigt. Birkner war ein wenig blaß und trug die linke Hand verbunden, denn er hatte beim Löschen etwas abgekriegt, das ziemlich weh tat und mit dem er am Morgen beim Doktor vorgesprochen hatte.
    Auch im Gymnasium herrschte Ordnung. Die Buben waren alle da, sie brüllten etwas weniger laut als sonst bis zum Ertönen

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