Zwischenfall in Lohwinckel
abgelagert. Im Mittelalter lag vor dem Tor des Angermann der Anger, die Stätte also für Rad und Galgen, der Pestfriedhof und die Wiese, auf der landfremdes und friedloses Volk zu Jahrmarktszeiten nächtigen durfte. Aber jetzt sah der heilige Georg vom Angermann zunächst auf eine staubige und schlecht gepflegte Straße hinunter, die zwischen Bretterzäunen zu den Arbeiterhäusern der Vorstadt Obanger führte. Sie waren nicht schön, aus Ziegeln ziemlich summarisch hingebaut, alle mit der unwillkürlichen Richtung auf die Fabrik zu, wie in Lohwinckel drinnen alles die Richtung zur Kirche hatte. Hinter der Fabrik führte eine Landstraße dritter Ordnung zwischen Ebereschen und den Äckern des Gutes hin, viermal des Tages befahren vom Postauto, das zum Bahnhof karrte. Lohwinckel besaß nur eine halbe Bahnstation, die ganze führte den Namen Lohwinckel-Düßwald, und vom Bahnhof ging es nach zwei entgegengesetzten Seiten etwa eine halbe Stunde Wegs bis zu jeder der beiden Ortschaften. Die Straße war schlecht, sie litt unter den schweren Lastautos der Fabrik, die tiefe Löcher in sie eindrückten, und wenn dem Postauto ein Fabrikauto entgegenkam, dann entstanden Verlegenheiten und Streitereien, denn die alte Landstraße war zu schmal für diese Ansprüche eines modernen Verkehrs. Herrn Profets Versuche jedoch, ein Nebengleis bis zum Bahnhof zu führen, scheiterten an dem erbitterten, ja geradezu rasenden Widerstand des Herrn von Raitzold, dem der Boden zwischen Fabrik und Bahnhof gehörte. Zwischen den beiden Männern bestand eine Feindschaft, deren verschiedene Stadien ganz Lohwinckel beschäftigten, ein stagnierender Haß, der eigentlich keinen andern Grund hatte, als daß die Raitzolds seit Jahrhunderten ansässig, bodenverwachsen und auf erschreckende Weise im Verarmen begriffen waren – während der neu zugezogene und landfremde Herr Profet Geld verdiente, Geld in allerhand Unternehmungen steckte – in Grundstücke, in die Stützung der Kreissparkasse, in den Gasthof ›Zum weißen Schwanen‹, um Beispiele zu nennen – und so weit an Einfluß zunahm, wie sein Geld in der Gegend zirkulierte.
Nicht ohne Grund hatte der reiche Herr Profet seine Villa, ein Gebäude von etwas unübersichtlicher Architektur, mit Türmchen, Terrasse, Tennisplatz und Springbrunnen, möglichst weit weg von den unerfreulichen Bezirken Obangers verlegt, an die Westseite der Stadt, außerhalb des zweiten Tores, in den sogenannten Priel. Auch ein Siebentausend-Menschen-Ort wie Lohwinckel hat seine Kasten, er hat sie sogar besonders deutlich umgrenzt. Die Prieler, das sind in Lohwinckel von jeher feine Leute gewesen, das, was Apotheker Behrendt was Besseres nennt; aber dem Begriff Obangerer hing etwas Herabsetzendes an, beinahe war es ein Schimpf, und im Gymnasium gab es Keilereien in genügender Menge, wenn einer den andern Obangerer nannte: Herrn Profets jüngerer Sohn beispielsweise den Pensionär Kolke, der bei Direktor Burhenne wohnte, der langbeinige Primaner Gürzle den Sohn der armen Witwe Psamatis oder sonst einer sonst einen.
Vom Angermannshaus hatte man fünf Minuten bis zu den Mittelpunkten von Lohwinckel zu gehen, bis zur Kirche oder bis zum Gymnasium, das samt Burhennes Dienstwohnung an der Gabelung der Hauptstraße lag, oder bis zu Heinrich Markus' Geschäft gegenüber dem ›Weißen Schwanen‹. In weiteren fünf Minuten war man dann am andern Ende, beim Westtor, hinter dem die schöne Ahornallee des Priel begann, mit besserer Luft, mit Ligusterhecken vor Villengärtchen und den promenierenden Töchtern der arrivierten Prieler.
Frau Doktor Persenthein unternahm diese fünf Minuten Weges niemals, ohne den Hut aufzusetzen. Es war eine von ihren Bemühungen, die Respektabilität des Doktors zu betonen. Sie ging auch nicht mit dem Einkaufskorb, das konnte zwar die Frau des Schusters tun oder das Dienstmädchen von Notars, aber nicht die Frau des Arztes. Sie vielmehr hatte ein klein gefaltetes Einkaufsnetz bei sich. Übrigens war an diesem Abend das Einkaufsnetz nur Vorwand, und während sie so langsam ihren Weg durch die Stadt nahm, daß sie fast sieben Minuten brauchte, um vor Markus' Laden anzulangen, fühlte sie ihr Herz viereckig werden. So nannte sie es bei sich, wenn sie ihr Herz spürte, es kantig und leise schmerzend in der Brust spürte, als wenn eine Ecke dieses viereckigen Herzens bis an das linke Schlüsselbein stieße. Daß ihr Mann Arzt war, gab übrigens Grund genug, ihm diese kleine Unannehmlichkeit hübsch
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