Zwischenfall in Lohwinckel
zurück zu seiner Mutter, zurück in den Seifen- und Kaffeegeruch des Gewölbes in der Marktstraße. Da saß er nun und versuchte, sich mit dem Leben einzurichten. Er führte Neuerungen ein. Er ließ ›Warenhaus‹ auf das Schild malen, und das Schaufenster zeigte manchmal einen modernen Zug, der fast anstößig wirkte. Er trug im Privatleben eine Brille. Er kaufte viele Bücher, las Kataloge, war auf einen Stoß von Zeitschriften abonniert. Er schaffte sich einen exzeptionellen Radioapparat an, mit dem er nicht nur sein geliebtes Berlin hören konnte, sondern auch Paris, London, Rom. Und dann hatte er eine wunderliche und weitläufige Korrespondenz. Er schrieb Briefe, ungezählte Briefe in alle Welt, und manchmal bekam auch er einen Brief. Er klammerte sich an die große Welt draußen und schleppte sie in sein kleines, dumpfes Kontor, wo die Kaffeesäcke aufbewahrt wurden, weil hier die Luft am trockensten und die Gefahr für ihr Aroma am geringsten war …
»Man darf sich bloß nicht fallen lassen. Man muß seinen Idealismus festhalten, Frau Doktor«, sagte er und hatte Mühe mit den Konsonanten. Elisabeth sah ihn aufmerksam an, aber das große Wort Idealismus befremdete sie. Sie nagte ein wenig an ihrem Zeigefinger.
»Ach, Markus – manchmal weiß ich mir gar nicht mehr zu helfen«, sagte sie leise.
»Ich weiß. Sie haben es auch nicht leicht«, antwortete Markus, sonderbarerweise mit den gleichen Worten, die der Arbeiter Lungaus gebraucht hatte. Man sprach in Lohwinckel häufig davon, daß Frau Doktor Persenthein es nicht leicht habe, und das verschärfte noch die allgemeine Antipathie gegen ihren Mann. Sie schaute trostbedürftig auf Heinrich Markus' beschmutzte Schreiberhand, die unwillkürlich auf der tintenfleckigen Pultplatte sich der ihren näherschob.
»Mein Mann«, sagte sie klagend und lächelte dazu.
»Ich weiß schon«, erwiderte Markus mit Behutsamkeit.
»Nur weil er solche Sorgen hat. Das wird immer schlimmer. Er tut mir so leid. Er ist dann – unfreundlich –, er tut mir so leid. Und jeden Tag die Sorgen und jeden Tag die Auseinandersetzungen um Geld. Ich muß doch –«
»Der Doktor hat doch eine gute Praxis jetzt. Ich schätze, er verdient –« sagte S. Markus' Nachfolger und wurde zum Kaufmann.
»Er verdient, aber er gibt alles wieder aus, das ist es. Es sind immerfort Anschaffungen, immerfort, und so teure Dinge und Apparate und Bücher und die Zeitschriften, und dann denkt er über neue Instrumente nach, die er erfinden will, verbessern, er bestellt so komische Sachen, und für uns langt es dann nirgends und nirgends. Er will immer alles noch besser machen, noch besser haben. Er will nicht so ein verschlafener Landarzt werden, wie mein Onkel war, das ist es, ich verstehe das schon, aber es ist so schwierig –«
»Der Doktor ist ein strebsamer Mensch. Man muß ihn –«
»Strebsam, ja. Nein, wissen Sie, Herr Markus, er ist ein unzufriedener Mensch von Natur aus, das ist es. Er sitzt ja jetzt auf einem stillen Platz, das ist wahr. Aber er würde nirgends Ruhe haben, das weiß ich, und wenn er – ach, ich weiß nicht, was und wo er sein könnte, er würde unzufrieden bleiben.«
»Danken Sie Gott dafür. Er gehört zu den Lebendigen. Hier sind ja alle gestorben, tot, erledigt, es rührt sich nichts, es geschieht nichts. Das ist ja die verdammte Gefahr hier, daß man auch still wird und sich abfindet. Wie ist das denn mit Ihnen, Frau Doktor? Möchten Sie nicht auch manchmal fort, nur fort, heraus aus allem, fort, nur weg, weit weg, woanders hin? Hier sieht alles so endgültig aus, so unwiderruflich. Haben Sie selber nie Lust, alles wegzuschmeißen und fortzulaufen?«
Elisabeth hörte aufmerksam zu und sah dabei dem fünfjährigen Rehle ähnlicher als sonst. Dann überlegte sie eine Weile und nickte mit dem Kopf.
»Aber das kann man natürlich nicht«, sagte sie vernünftig.
»Nein. Man kann es nicht«, wiederholte auch Markus.
»Wie es jetzt regnet«, sagte sie und horchte. ›Kola wird nasse Strümpfe heimbringen. Ich muß noch welche stopfen für morgen‹, dachte sie.
»Warum nicht?« fragte plötzlich Markus und stand heftig auf. »Warum eigentlich nicht? Warum kann man nicht fort, weg, raus aus allem? Das glaubt man nur, wenn man in Lohwinckel sitzt. Hier ist alles festgefahren. Draußen sieht die Welt ganz anders aus. Man liest doch, man hört doch – alles ist in Fluß geraten, alles schichtet sich um – bei uns ist man wie eingemauert. Bei uns wird alles
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