Zwischenfall in Lohwinckel
rauschte.
»Ja. Aber lieber im Kontor«, sagte Herr Markus, warf einen Blick auf seine Armbanduhr und gab dem Kommis die Anweisung, den Laden zu schließen. Elisabeth folgte ihm hinter die Theke und in den kleinen Glasverschlag, der voll duftender Kaffeesäcke stand. Sie nahm ihr Einkaufsnetz fest in die Hände und ging direkten Weges los.
»Jetzt ist schon der zwölfte Oktober, Herr Markus«, sagte sie.
»Wie? Ja. Allerdings. Wahrhaftig, schon der zwölfte –« erwiderte Markus verlegen, setzte die Brille auf und schaute den Wandkalender an. Er hatte einen hübschen Mund, der leicht hilflos wurde und dann mit den Anfangskonsonanten einzelner Worte nicht fertig werden konnte. Er hatte dunkle Haare, die besondererweise mit einem blonden Schimmer rund um die Stirn ansetzten. Elisabeth schaute sich dort fest, um in ihrer Erklärung fortzufahren.
»Ich kann unsere Rechnung noch immer nicht bezahlen, Herr Markus.«
»Ach, das ist – schade – ich meine – ich habe sie Ihnen nur der Ordnung halber geschickt – Sie wissen ja, Mutter ist so eigen –« stammelte Markus und machte eher den Eindruck eines Schuldners als den eines Gläubigers.
»Die Leute sind so unpünktlich, wir haben so viel Außenstände –« sagte Elisabeth, die immer verlegener wurde.
»Ja, das kann ich mir denken – bei mir im Geschäft ist es auch so – ich muß die Waren prompt bezahlen, aber die Kundschaft läßt sich Zeit.«
Nachdem das Gespräch so verheddert war, fand keiner von beiden weiter. In Elisabeths Augen kamen gerade jetzt, gerade in diesem unangebrachten Moment die Tränen, die sie seit dem Morgen in sich hineingelächelt hatte. Wahrscheinlich, weil sie zum erstenmal still saß und weil Markus ihr ein bißchen leid tat.
»Es ist mir so peinlich«, flüsterte sie.
»Ach – bei mir – das ist nicht so schlimm«, sagte Herr Markus, der mit seiner Mutter täglich die unangenehmsten Auseinandersetzungen hatte wegen dieser unbezahlten Faktura Persenthein.
»Es tut mir leid, wenn Sie Geldsorgen haben, Frau Doktor«, sagte er schließlich. Es ging nicht gut an, seine Gefühle für diese Frau in einer leidenschaftlicheren Form zu äußern. Übrigens verstand ihn Elisabeth auch so, und das gab ihr eine Mischung von angenehmen und unangenehmen Gefühlen. »Sie sind auch immer nett, Herr Markus«, sagte sie dankbar.
Herr Markus, S. Markus' Nachfolger, war ein Außenseiter wie Doktor Persenthein auch. Erstens war er, obwohl in Lohwinckel geboren, Jude. ›Ich geh zum Juden!‹ sagte man in Lohwinckel, anstatt ›ich gehe einkaufen‹ oder ›ich gehe zu Markus‹. Als Kind war er einsam gewesen, als Schüler hatte er seine Lehrer, insbesondere den pedantischen Direktor Burhenne erschreckt durch seinen ungeduldigen, dem Lehrstoff vorausstürzenden Verstand und seine flackernd wechselnde Vorliebe für verschiedene Fächer. Nach dem Abitur verließ er Lohwinckel, um in Berlin Jus zu studieren und etwas zu werden. Dann kam die Geschichte mit seinem Vater, Herrn S. Markus, an der Doktor Persenthein nicht unbeteiligt erschien. S. Markus war vom Schlag getroffen worden, ganz unvorbereitet, wie so etwas kommt, eines Abends, gerade als er kalte, gepfefferte, gelbe Erbsen aß und ein Glas des vorzüglichen Gutsweines dazu trank. Frau Markus ließ Doktor Persenthein holen. Aber Doktor Persenthein war nicht zu Hause. Man erreichte ihn nach Anweisung der Tafel an seinem Haus eine Stunde später auf dem Gut, wo die Vormagd unter großen Mühen und Schmerzen ein uneheliches Kind gebar. Bei dieser Magd blieb er, bis er dem Kind ans Leben verholfen hatte, und dann erst trabte er langwierig nach Lohwinckel hinein, denn das Motorrad wurde erst nach dieser Erfahrung angeschafft, und Herr von Raitzold, der verbohrter Judenfeind war, weigerte sich, seinen Wagen zu borgen. So starb Herr S. Markus ohne ärztliche Hilfe, wie er sicherlich auch mit ihr verstorben wäre. An Doktor Persenthein jedoch blieb von dieser Nacht her der geduckte Haß der alten Frau Markus haften, ferner das Odium, daß er unzuverlässig und in wichtigen Momenten nicht zur Stelle sei, und schließlich noch etwas Unbestimmbares: so, als wenn er auf Seiten der Unmoral stünde und liederlichen Personen lieber beistünde als ehrbar versterbenden, wenn auch israelitischen Mitbürgern.
Schlimmere Folgen hatte dieser Schlaganfall für den jungen Markus, cand. jur. Heinrich Markus in Berlin. Er mußte das Studium aufgeben, den Laden übernehmen, zurück nach Lohwinckel kommen,
Weitere Kostenlose Bücher