Zwischenstation Gegenwart (German Edition)
fragte er fast ungläubig.
»Ja, eben der. Er hat kurzfristig die Rolle meines Schutzengels übernommen. Aber du kannst mir glauben, dass ich nicht hier bin, um über Lars zu sprechen. Ich will Antworten, Richard, und zwar ehrliche. Also, was ist es, was du Phil nicht sagen konntest?« Richard rieb sich die Augen, er schien Zeit schinden zu wollen. Bis auf das Ticken der alten Standuhr herrschte Stille im Raum.
»Ich glaube, dass ihr ein Anrecht darauf habt, es zu wissen. Setz dich bitte, die Geschichte ist nicht mit zwei, drei Sätzen erzählt.« Er wies mit einer Hand zu der Sitzgruppe und wir gingen beide dorthin und nahmen Platz. Erwartungsvoll sah ich ihn an.
»Ich höre«, forderte ich ihn auf, als er keinerlei Anstalten machte zu beginnen.
»Ich sage dir gleich, dass ich keineswegs stolz darauf bin, was ich getan habe. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es der Grund für all das ist, was dir geschehen ist, aber die Vermutung liegt nahe.« Musste er es so spannend machen, konnte er nicht einfach drauflos erzählen?
»Also?«, drängte ich ihn ungeduldig.
»Ich muss ein wenig weiter ausholen, damit du es verstehst. Wie du vielleicht weißt, wollten mein Großvater und Vater, dass wir, also Philemons Mutter und ich, wie ganz normale Kinder aufwachsen. Ihr Ziel war es, aus uns selbstständige Menschen zu machen, die durchaus in der Lage sind, mit beiden Beinen im Leben zu stehen. Wir gingen nicht auf exklusive Privatschulen, sondern wie alle anderen Kinder auf öffentliche Schulen. Mochte der Gedanke meines Vaters ehrenhaft gewesen sein, so war es in der Realität nicht immer leicht. Die Zeiten waren andere, der Krieg war noch nicht allzu lange vorbei, viele Menschen nicht so gut gestellt wie die Mitglieder meiner Familie. Stell dir vor, du kommst als Kind in eine Schule, in der fast alle deine Klassenkameraden für deine Familie arbeiten. Das macht einen nicht unbedingt zum Liebling, ganz im Gegenteil, Kinder können sehr grausam zueinander sein.« Hier machte er eine kurze Pause, als schien er sich an die Zeit zu erinnern, dabei verdüsterte sich sein Blick für einen Moment. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerungen zu vertreiben, holte kurz Luft und fuhr fort:
»Vom ersten Tag an hatten mich meine Mitschüler auf dem Kieker und schikanierten mich, wo es nur ging. Eines Mittags passten sie mich nach Schulschluss ab und nahmen mich in die Mangel. Wenn ich groß und kräftig gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht gegen meine Angreifer wehren können, aber dem war nicht so. Festgehalten von zwei Jungs musste ich mit ansehen, wie sie mir den Schulranzen abnahmen, ihn durch den Schlamm zogen, darauf hüpften und ihn hin und her kickten. Es dauerte nicht lang, da war mein Lederranzen, der mein ganzer Stolz gewesen war, ebenso lädiert und gebraucht wie die meiner Klassenkameraden. Danach wollten sie mir an den Kragen. Das war der Moment, in dem Klaus auftauchte. Er war in meiner Klasse und gehörte zu den wenigen, die mich bisher in Ruhe gelassen hatten. Er stauchte die Jungs, die mich angriffen, zusammen, drohte ihnen erst Prügel an und wollte sie danach beim Direx verpfeifen. Das wollten die Jungs natürlich nicht, denn das hätte einen Schulverweis mit sich bringen können. Klaus war schon als Kind eine beeindruckende Persönlichkeit, er hatte eine gewisse Art mit Menschen umzugehen, die mich immer faszinierte. Als wir alleine waren, hob er meinen Ranzen auf, reinigte ihn und gab ihn mir wieder. Auch wenn es abgedroschen klingt, es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Von diesem Tag an waren wir beide nahezu unzertrennlich.«
»Wie ging es dann weiter? Was ist passiert?« In meinen Ohren klang das bisher wie die normale Geschichte einer langen Freundschaft. Wann war der Bruch gekommen?
»Damit du es besser verstehst, muss ich dir etwas über Klaus und seine Familie erzählen. Er war ein Kind aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Seinen Vater kannte er nicht und seine Mutter hat ihm immer nur vage Auskünfte über seinen Verbleib gegeben. Er vermutete immer, dass sein Vater einer der amerikanischen Soldaten war, die nach dem Krieg in die Stadt gekommen waren. So wuchs er bei Mutter und Großmutter auf. Damals war es noch ein großer Makel, wenn man ein uneheliches Kind war, heute würde kein Hahn mehr danach krähen. Margarete heiratete einige Jahre nach Klaus’ Geburt einen Mann. Ob es eine Liebesheirat war oder ob sie es getan hat, um ihrem Sohn einen Vater zu geben, weiß ich nicht. Aber
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