Zwölf Wasser Zu den Anfängen
anders war. Jede dieser vielen hundert Säulen stand auf dem Kopf einer anderen Frau. Einer anderen Unda. Es schien Felt, als stütze sich der gesamte Kontinent auf die Hohen Frauen, und sie nahmen es gelassen hin. So viele? Achtzig waren in der Grotte, wo waren die anderen? Waren sie tot? Konnten sie überhaupt sterben? Der Gedanke durchzuckte Felt und er wunderte sich, dass er sich das nicht schon viel früher gefragt hatte. Diese Halle hier war nicht neu. Revas in Stein gemeißeltes Gesicht lag bereits viele Soldern in diesem Wasser.
»Geh weiter, Felt«, sagte Marken hinter ihm.
Ein Podest am anderen Ende der Halle war das Gegenstück zum halbrunden Vorbau der Empore, aber es lag tiefer, nur wenig über dem Wasserspiegel. Die hintere Wand der langen Halle, vor der sie nun standen, ragte hoch auf. Sie war aus rauem, unbehauenem Felsgestein. Aus einer Spalte über ihren Köpfen trat Wasser aus dem Felsen und floss in einem schmalen Gerinne hinab auf einen großen Steinquader, aus dem ein Relief herausgearbeitet war. Es stellte einen Krieger in voller Rüstung dar, gestützt auf sein Schwert. Das Wasser tropfte ihm auf Helm und Brust, auf der dunkle Algen blühten, es rann über seine Stiefelspitzen, sammelte sich zu seinen Füßen in einer Lache und lief von dort ins große Wasserbecken.
»Ihr habt gut vorgesorgt«, sagte Utate.
»Ich danke Euch, dass Ihr das Licht an diesen Ort getragen habt.« Auch Sardes sprach freundlicherweise Welsisch.
Kersted traute sich zu fragen: »Und was ist dies für ein Ort?«
»Der Quellsee von Pram«, sagte Reva.
»Ein Quellsee?«, fragte Kersted ungläubig. Das hier unterschied sich sehr von dem insektenumschwirrten natürlichen Felsbecken im Wald, das sie vor ein paar Tagen gesehen hatten.
»Aber sicher«, sagte Reva. »Als Sardes spürte, dass dieQuelle versiegen würde, ließ er diese Halle bauen, um das Wasser aufzufangen.«
»Wann war das?«, fragte Felt vorsichtig.
»Oh«, machte Reva, »das ist über hundert Soldern her. Ich bin heute auch zum ersten Mal hier. Ich finde, es ist sehr hübsch geworden.«
Marken räusperte sich.
Utate legte den Kopf schief: »Mir gefällt es auch sehr. Und die Säulen! Ihr habt Euch so viel Arbeit gemacht. Wir fühlen uns sehr geehrt.«
Die drei strahlten Sardes an und der wurde verlegen. Die Undae hatten eine Art, die jeden aus der Fassung bringen konnte, selbst ihn.
»Die Quelle versiegt?«, fragte Felt und registrierte die Aufgeregtheit in seiner Stimme. »Aber … müsstest ihr nicht etwas dagegen unternehmen?«
»Ach nein«, sagte Reva leichthin, »da hätten wir viel früher kommen müssen. Doch dazu gab es keinen Anlass.«
»Das ist der Lauf der Welt«, sagte Smirn. »Quellen entstehen und versiegen.«
Sie war ernst geblieben, und obwohl sie nur eine Tatsache aussprach, hörte Felt eine Kritik heraus. An was? An wem?
»Ich verstehe es nicht. Was unterscheidet diese Quelle von den anderen? Warum darf die Quelle von diesem … Torvik niemals versiegen, diese hier aber schon? Verzeiht mir meine Unwissenheit, aber ich begreife es einfach nicht. Was ist dann der Sinn von allem … von unserer Mission?«
»Ach«, brummte Sardes, »Ihr habt Torvik getroffen?«
»Ja«, sagte Utate, »er lässt herzlich grüßen. Er hat ebenfalls gute Arbeit geleistet.«
»Das glaube ich gern«, gab Sardes zur Antwort. »Von Torvik können wir alle lernen.«
»Reva?«, fragte Felt und fühlte sich wie ein kleiner Junge, der versucht, sich unter Erwachsenen Gehör zu verschaffen.
»Ich erkläre es dir, euch allen«, sagte Reva. »Ich will es wenigstens versuchen. Verzeiht, ich bin, wir alle sind, etwas … aufgewühlt.«
Sie machte nicht den Eindruck. Sie ließ ihren Blick durch die Halle schweifen, lächelte, dann sah sie die Offiziere an. Felt fröstelte.
»Nun, jede Quelle ist verschieden. Manche sind sehr alt, so alt wie die Welt selbst. Eine solche Quelle ist die von Torvik. Vielleicht könnt ihr es euch so vorstellen: Sie ist der Ursprung des Lebens, das sich fortwährend selbst befruchtet. Sie spendet mehr als Wasser, viel mehr. Sie ist die Kraft der Jugend, der ein unerschütterlicher Glaube an die eigene Zukunft innewohnt.«
»Sie ist die Hoffnung«, sagte Kersted unvermittelt.
Im selben Moment, in dem Felt die Erinnerung an den in magisches Licht getauchten Quellsee auf dem Gesicht des Kameraden aufleuchten sah, begriff er es selbst endlich ganz: Ja, Torviks Quelle spendete mehr als Wasser, viel mehr – sie
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