Zwölf Wasser Zu den Anfängen
spendete Hoffnung. Würde Torviks Quelle versiegen, verschwände die Hoffnung aus der Welt.
Felt verstand zwar nicht, was vorging, was die Welt bedrohte oder was sie zusammenhielt, aber er begriff in diesem Moment, was
ihn
zusammenhielt: die Liebe zu Estrid, grundlos und unerschütterlich. Die Verbundenheit mit seinen Kameraden, das Vertrauen, das er ihnen entgegenbrachte. Die Disziplin, mit der er jeden Tag auf den Wall gestiegen war und mit der er ein weithin sichtbares Zeichen gegen die Verzweiflung gesetzt hatte. Felt begriff, dass er
Fähigkeiten
hatte. Er begriff, dass er
ein Mensch
war. Und dass seine Menschlichkeit, die Summe seiner Fähigkeiten, in dieser Welt untrennbar mit den Quellen verbunden war. Wenn ihm seine Fähigkeiten genommen würden, wenn die Verbundenheitsich löste, das Vertrauen schwand, die Liebe aufgab, die Hoffnung starb – dann wäre er kein Mensch mehr.
»
Zwölf Wasser sollen fließen
«, Marken flüsterte, »
zwölf Quellen sollen stillen der Menschen Durst nach Menschlichkeit
.«
So soll es sein, so ist es nicht mehr.
Wasser sinkt. Wasser steht. Wasser schweigt.
Menschlichkeit versiegt und Bitternis steigt
auf in den Seelen, dunkel und schwer.
Felt sprach es nicht aus. Aber er sah seinen Kameraden an, dass ihnen ebenfalls die Worte der Undae im Gedächtnis standen. Die Hohen Frauen hatten es ihnen längst gesagt und hatten es sie spüren lassen in dem Grauen, das in der Grotte über sie hereingebrochen war: Die Quellen versiegten. Die Menschheit verlor ihre Menschlichkeit.
»Nichts ist ewig.«
Das war Utate, die nun sprach. Ihr Blick ruhte auf Sardes, aber sie richtete sich an Felt: »Du bist besorgt, das ist menschlich. Du siehst eine sterbende Quelle. Und nicht nur das, du siehst ihr Grab. Ihr alle seht es, ihr steht mitten drin. Ihr seht, wie sie sich zur Ruhe begibt und ihr Grab mit sich selbst anfüllt. Und es gibt nichts, was ihr tun könntet. Ihr könnt sie nicht retten. Ihr seht den Anfang und das Ende.«
»Aber
ihr
könntet es«, sagte Kersted trotzig, »ihr könntet sie retten! Ihr wolltet doch das Wasser zu den Anfängen tragen, oder? Darum geht es doch!« Er war laut geworden und Tränen der Wut standen ihm in den Augen.
»Ganz recht«, sagte Reva ruhig und legte die Hand auf die kleine Phiole, die ihr um den Hals hing. »Zwölf Wasser sollen fließen. Zwölf Quellen sollen sprechen. Und, ja, zwölf Quellen sollen den Durst der Menschen stillen: nach dem, was ein Mensch sein kann, was ihn ausmacht, was ihn erhebt und was ihn bindet – nach Menschlichkeit. So soll es sein.«
»So ist es nicht mehr«, ergänzte Smirn. Wieder sprach sie neutral und ohne Emotion. Und wieder hörte Felt etwas anderes heraus: die Dringlichkeit, die Aufforderung zur Eile. Marken strich sich den Bart und Felt sah, dass seine Hand zitterte. Kersted atmete stoßweise, versuchte sich im Griff zu behalten. Aber Felt wusste, dass es seinen Kameraden nicht anders ging als ihm selbst: Sie hatten Angst, alle.
Es war nun nicht mehr die unbestimmbare Furcht aus der Grotte, das namenlose Grauen. Die Angst hatte Gestalt angenommen, sie hieß: Verlust. Verlust aller Fähigkeiten. Verlust der Fähigkeit, zu lieben, zu hoffen, zu vertrauen, Freundschaft zu schließen oder eine gerechte Sache zu erkennen. Sie alle hatten Angst vor dem Verlust der Möglichkeit, ein Mensch zu sein.
Utates Stimme war sanft, als sie nach einer langen Pause zu sprechen begann: »Alles Wasser ist in Bewegung, es ist das Blut der Erde, es kommt aus ihr und kehrt zu ihr zurück, auf Wegen, die wir nicht bestimmen können. Zu Zeiten, die wir nicht bestimmen sollten. Die Welt wandelt sich beständig und die Menschen wandeln sich mit. Quellen entstehen, Quellen versiegen. Ein Volk schwingt sich auf, ein anderes geht unter. Ein Mensch erreicht Größe, ein anderer fällt tief. Leben entsteht, Leben vergeht, durchströmt vom Wasser. Und solange die Zwölf Wasser fließen, kann die Welt sich wandeln und ihre Menschlichkeit bewahren – zu allen Zeiten. Ihr Welsen wisst, wovon ich spreche, für euch war die Zeit dunkel. Aber ihr habt die Hoffnung nicht aufgegeben, denn Torviks Quelle lebt und sprudelt im Verborgenen.«
Sie lächelte, legte dem Steinkrieger die Hand auf die bealgte Brust, ließ sich das Wasser über die Finger rinnen und sprach weiter: »Sardes hingegen hat schon vor langer Zeit entschieden, sich in den Dienst der Menschen von Pram zu stellen. Erhat unter den ersten Fischern, die sich am See
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