Zwölf Wasser Zu den Anfängen
unterdrückte die Welsen, nutzte sie aus – das war das Gesetzdes Stärkeren, das war der Lauf der Welt und in diesen Lauf hinein war Felt geboren worden. Er kannte es nicht anders. Und es war vor allem Kandor in seinem Streben nach Macht, der die Welsen mit seiner gnadenlosen Rücksichtslosigkeit klein hielt. Aber Fürst Mendron war kein grausamer Despot, er überzog seine Nachbarn nicht mit Krieg, er war nicht gierig – er diente seinem Volk, sonst nichts. Felt konnte das nachvollziehen. Er konnte respektieren, dass der Fürst nicht das Wohl anderer im Sinn hatte, sondern das der Bürger von Pram. Diese Stadt lebte durch ihn. Sie existierte, weil der Fürst existierte. Und Sardes war der Schild, der ihn schützte. Was würde mit Pram geschehen, wenn dieser Schild brach?
Etwas geht vor.
Der Lauf der Welt wechselte seine Richtung, das war deutlich zu spüren. Ihnen allen standen große Veränderungen bevor, und dass es welche zum Guten sein würden, konnte nur noch der glauben, der sich Augen und Ohren zuhielt.
Sie gingen eine breite, sich in großzügigen Windungen in die Tiefe schraubende Treppe hinab, die in eine säulengestützte kleine Halle führte. Das Licht rotflammiger Fackeln floss über das Mauerwerk wie Blut. Sardes blieb stehen und wandte sich an die Undae. Er sprach auf Pramsch zu ihnen, sein Bariton hallte im Gewölbe wieder und es war Felt unmöglich, auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was er sagte. Er endete, der Klang seiner Stimme wogte noch einige Augenblicke durch die Halle, dann war es still. Still wie in einer Gruft. Kersted wechselte das Standbein, und das Geräusch, das diese kleine Bewegung verursachte, schien unangemessen laut. Die Undae entzündeten ihre weißen Lichter, deren helles, geisterhaftes Leuchten sogleich die roten Flammen der Fackeln erstickte, ganz so, als habe man eine nasse Decke über ein Feuer geworfen. DerRaum schien sich abzukühlen. Die Frauen schoben ihre Kapuzen zurück, ihre Gewänder glänzten jetzt wie Quecksilber und die Narbenornamente auf ihrer Haut glimmten. Sardes schloss die Augen, senkte sein weißes Haupt und legte zwei Finger an die Stirn. Einen Atemzug lang war er wieder jung und alles stimmte: Seine Kleidung war die richtige für diesen Mann und diesen Ort und sein Schwert war das eines Herrschers über ein Reich, das zwar unsichtbar blieb, aber dennoch bestand. Felt hatte das Gefühl, einer erhabenen Autorität gegenüberzustehen, deren Wirkkreis weiter reichte als der von Mendron oder jedes anderen Fürsten. Dann war der Augenblick vorüber und zurück blieb nur ein Hauch der Alten Zeit.
Sardes öffnete ein schmiedeeisernes Tor. Was dahinter war, lag in völliger Dunkelheit.
»Kommt, Welsen. Seht die Zukunft. Seht den Anfang und das Ende.«
Sie traten durch die Pforte in die Finsternis. Dann hoben die Undae die Arme und ihr Licht floss in einen Raum, wie Felt noch niemals zuvor einen gesehen hatte.
Das hohe Gewölbe der Halle ruhte auf einer Vielzahl von Säulen, die nicht nur eine umlaufende Empore trugen, sondern in regelmäßigen Abständen über die gesamte Fläche verteilt waren. Ihre Höhe war schwer abzuschätzen, der Boden der großen Halle war glatt wie ein Spiegel, die Säulen schienen in eine unermessliche Tiefe hinabzureichen. Wo die Gruppe stand, verbreiterte sich die Empore in einem Halbrund, zu beiden Seiten gingen breite steinerne Treppen hinab. In der Mitte führte eine weitere Treppe, viel steiler und schmaler als die anderen, auf einen Steg, der unten durch die gesamte Länge der Halle auf die entfernte Schmalseite zulief. Bis dorthin reichte das Licht der Undae nicht.
Sardes sprach die Hohen Frauen wieder an, der Tonfall warder einer Bitte. Als seine Stimme verklungen war, meinte Felt, das leise Geräusch fließenden Wassers zu hören – sehr schwach nur und weit entfernt, aber er war sich sicher: Wasser, das über Stein rinnt.
Utate ging die mittlere Treppe hinab, sie war gerade breit genug für eine Person, ein Geländer gab es nicht. Reva und Smirn nahmen die Treppen rechts und links. Sardes trat ein paar Schritte vor, die Welsen folgten. Sie beobachteten, wie Utate den Mittelsteg erreichte und wie die beiden anderen am Fuß der Treppen bis zur Hüfte im Boden versanken. Das war es also, deshalb der Spiegeleffekt – der Boden der Halle war in Wirklichkeit eine Wasseroberfläche.
Die Frauen begannen zu sprechen, während sie langsam durch die Halle gingen, auf dem Steg oder im dunklen Wasser, das
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