Zwölf Wasser Zu den Anfängen
führte. Das war ihm klar gewesen, aber erst jetzt, an diesem nebligen Morgen im Moor, wurde Felt bewusst, was das wirklich bedeutete. Er war verantwortlich für das Leben, für das Wohl jedes Einzelnen. Jeder Einzelne war wichtig und kein Ballast, sondern ein Mensch. Er winkte seinen Diener zu sich, der mit einer Schale dampfender Geflügelbrühe zu ihm gestolpert kam. Felt nahm sie, sagte: »Wo ist das Mädchen? Bring mir Revas Dienerin her.«
Der Mann schaute skeptisch, ging aber, sie suchen.
»Wie alt bist du?«
»Fünfzehn Soldern, mein Herr.«
»Du sprichst Welsisch?«
»Ja, mein Herr, Welsisch, Kwothisch und Segurisch – aber auch Pramsch natürlich, wenn Ihr lieber …« Sie brach ab unter dem eisigen Blick, den Felts Diener ihr zugeworfen hatte.
»Verzeihung, ich wollte nicht vorlaut sein.«
Sie war hübsch, auf eine sanfte, rundliche und typisch pramsche Art und Weise, die Felt noch nicht verinnerlicht hatte –er sah Schönheit in knochigen Hüften und hohlen Wangen, in Zähigkeit und Trotz. Er sah immer nur Estrid.
»Wie heißt du?«
»Alba, mein Herr.«
Ein halbes Kind noch. Aber mit einer großen Hoffnung auf dem Gesicht, dem leuchtenden Gegenpart zur stumpfen Verzweiflung der vorigen Nacht.
»Alba, du wirst ab sofort mir dienen, die Unda braucht dich nicht. Und du«, er wandte sich an den Diener, dem sich urplötzlich die Wangen gerötet hatten, »du dienst Gerder. Und zwar gewissenhaft.«
Der Diener öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Schluckte. Dann sagte er: »Jawohl, mein Herr.«
Er fühlte sich degradiert, bestraft und sah den Sinn nicht ein. Aber heute war die Rechnung eine andere, allerdings immer noch einfach: lieber ein enttäuschter Mann als ein zerstörtes Mädchen.
NEUNTES KAPITEL
ASING IST NICHT MEHR
Das Moor war so allmählich in ein welliges Grasland übergegangen, dass sie es erst bemerkten, als Reva aufsaß. Es war eine leichte Bewegung in die vielen Tümpel gekommen – sie wuchsen zusammen und wurden zu einem grobmaschigen Netz aus Bächen. Felt überließ Reva die Führung durch das unübersichtliche Wasserlabyrinth, und sie hatte es eilig. Die Unda stand in den Steigbügeln, war weit über den Hals ihres Pferdes gelehnt, ihr Mund beinah bei seinen Ohren. Sie sprach mit dem Tier, sie lenkte es nicht mit den Zügeln, sondern mit Worten, und es streckte sich noch mehr unter ihr und galoppierte über das feuchte, saftige Gras. Reva nahm keine Rücksicht auf den Reisetrupp, der nicht hinterherkam – Felt sah die Unda davonpreschen; die Packpferde, der Koch, die Kaufleute und die Dienerschaft dagegen fielen immer mehr zurück. Aber Gerder schloss zu ihm auf.
»Ich reite ihr nach, du folgst!«
»Jawohl, Herr Offizier!«
»Und halt die Leute zusammen!«
Felt wartete Gerders Bestätigung nicht mehr ab, denn Reva war bereits weit voraus.
Jetzt sah er, worauf sie zuhielt. Der seit ihrem Aufbruch stets blaue Lendernhimmel zog sich zu. Am Horizont ballten sich massige, dunkle Wolken: eine Gewitterfront. Und Reva wollte hinein. Felt trieb sein Pferd noch schärfer an. Wind kam auf und große Schatten zogen rasch über die grasige Ebene, es wurde merklich kühler und vereinzelt leuchtete es in den schwarzen Wolken hell auf. Fernes Grollen. Felt war groß, er saß auf einem Pferd und hatte einen stählernen Helm auf dem Kopf. Es war alles andere als klug, in diese Front zu reiten. Er tat es dennoch.
Erste, schwere Tropfen fielen. Im Wind, im schnellen Ritt waren sie wie Kieselsteine, die ihm gegen Brustschutz und Helm geworfen wurden. Das kleine, verschwommene Glänzen von Revas Gestalt entfernte sich weiter, war kaum noch zu sehen, denn es wurde immer dunkler. Dann ein gleißendes Licht und unmittelbar ein Donner, ein nasses Reißen der Luft, gefolgt von einem langen, tiefen, ohrenbetäubenden Schlag. Jäh keinerlei Sicht mehr, der Blick verhangen vom dichten Regenschleier. Felt riss sich den Helm vom Kopf, zügelte das Pferd, wischte sich das Gesicht.
»Reva!«
Der Sturm brüllte zurück, lauter als der Mann. Wieder ein Blitz, wieder ein Donnerschlag. Dort war sie. Ihre helle Silhouette brannte sich beim Aufzucken des Lichts in Felts Netzhaut. Sein Pferd scheute, wieherte in Panik, stieg. Er konnte sich halten. Er verlor seinen Helm. Er zwang das Tier weiter.
Reva hatte angehalten. Ihr Pferd stand, mit zitternden Flanken, hängendem Kopf, das Maul schaumbedeckt, und war zu erschöpft, um noch Angst zu empfinden. Die Unda hatte sich im
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