Zwölf Wasser Zu den Anfängen
ihre Augen waren groß und dunkel. »Es könnte bedeuten, dass es bereits zu spät ist.«
»Wie meint Ihr das?«, fragte Babu.
»Ich meine, dass es vielleicht keine Zeitenwende mehr geben wird. Ich meine, dass das Ende der Menschheit gekommen sein könnte.«
Babu hatte Mühe zu atmen. Wovon sprach sie da? Zwölf Wasser? Menschlichkeit? Das Ende der Menschheit? Er unterdrückte ein Husten, denn Reva sprach weiter: »Aber ich weigere mich, das zu glauben. Denn die Hoffnung ist noch nicht versiegt.« Sie sah Felt an, der sich nicht rührte und schwieg.
Nun musste Babu doch husten; mit erstickter Stimme sagte er: »Ich verstehe nicht, was Ihr da sagt … vom Wasser. Von Quellen …«
»Babu, du hast die Merz gesehen, du musst es bemerkt haben. Die Wasserstände sinken. Die Zwölf Wasser hören auf zu fließen, die Quellen versiegen. Mit jeder Quelle, die stirbt, verlieren die Menschen ein Stück ihrer Menschlichkeit. Du hast bereits erfahren müssen, welche Folgen das haben kann.«
»Ich? Aber wie …«
»Du hast deinen besten Freund getötet. Du hast in Jator den Verräter gesehen. All die langen Soldern seiner Treue zu dir standen gegen einen einzigen Fehler, den Fehler eines Jungen. Du hast gezweifelt, du warst nicht sicher. Ist er Freund? Ist er Feind? Letztendlich aber konntest du nicht mehr erkennen, wer der wahre Jator war – und hast ihn erstochen. Schon bald wird
niemand
mehr den Freund erkennen und
jeden
im Zweifel für einen Feind halten – denn die Freundschaft verlässt den Kontinent. Die Quelle stirbt.«
Babu senkte den Kopf und fühlte Felts Blick auf sich. Reva wanderte langsam durch die Halle der schlafenden Falken, während sie weitersprach. Feinste Staubkörnchen glimmten in den Lichtbündeln wie Funken.
»Wind und Wasser sind sich nah, aber sie sind sich nicht immer einig. Die Undae und die Szaslas gehen auf verschiedenenPfaden, die sich nur manchmal kreuzen. Aber wir gehen doch in dieselbe Richtung. Lange sind die Undae die Wächterinnen des Kontinents gewesen, wir haben Anteil genommen am Werden und Vergehen, am ewigen Kreislauf, aber wir haben uns nur selten eingemischt. Es war nicht notwendig. Ein Mensch stirbt, ein anderer wird geboren. Einer wird verraten, ein anderer findet Verständnis. Ein Volk geht unter, ein anderes steigt auf – die Menschheit überlebt. Aber nun, nun geht etwas vor, das zum Handeln zwingt. Denn wenn wir nichts tun, wird die gesamte Menschheit in eine Finsternis stürzen, aus der sie nicht mehr herausfinden kann. Die Undae haben ihren Wachposten verlassen, er ist nicht mehr haltbar. Wir müssen die Ursache finden.« Sie blieb stehen und wiederholte: »Wir müssen die Ursache finden.«
Nun war es Felt, der hustete. »Dann genügt es also nicht … das Wasser zu den Quellen zu bringen? Zu den Anfängen zu tragen?«
Reva schüttelte den Kopf. »
Hoffnung ist Anlass, nicht Kenntnis
«, sagte sie leise. »Es war die richtige Entscheidung, die Quellen aufzusuchen, das Wasser des Sees zu den Anfängen zu tragen. Davon sollten wir nicht abweichen. Aber das wird nicht genügen. Wir müssen den
einen
Anfang finden, die Ursache.« Sie sah auf zu dem reglos auf seiner Steinsäule verharrenden Juhut.
»Dies ist eine Szasla, wie es vor ihr noch keine gegeben hat. Und du, Babu, bist ein Szasran, wie es vor dir noch keinen gegeben hat … Nur du wirst uns sagen können, was diese junge weiße Szasla in der Welt will. Ich musste bis nach Wiatraïn kommen, ich musste den neuen, veränderten Juhut erst sehen – den weißen Falken –, um zu begreifen: Die Alte Zeit wird niemals durch dich sprechen, Babu. Denn Juhut kommt nicht aus ihr. Er weist in eine Zukunft, in die ich nicht sehen kann. Erist der Beginn von etwas, das ich nicht überblicke. Aber allein das sollte uns Hoffnung geben, nicht wahr? Und du bist sein Sprachrohr, an dich hat er seinen Willen geknüpft … Du spürst ihn doch wieder, den Willen des Falken, oder?«
Babu nickte. Der Schmerz hinter der Stirn klopfte. Wieder füllten seine Augen sich mit Tränen – wie sollte er jemals ein Sprachrohr sein, wenn er beim leisesten Ton zerbrach?
»Wir sehen finsteren Zeiten entgegen«, sagte Reva streng. »Aber die Undae sind nicht gewillt, die Menschen aufzugeben. Und, wie es scheint, sind auch nicht alle Szaslas bereit, den Untergang des Kontinents zu verschlafen. Denn, glaubt mir, der Mensch ist groß, der Kampf lohnt sich.«
Babu fühlte sich sehr klein, unwissend und unnütz.
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