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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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hatte ohne besondere Aufregung gelesen, aber sie hatte ihr Wandern eingestellt.
    »Ich habe es gesehen   …« Felt hustete, würgte die Worte heraus, die sich genauso wenig unterdrücken ließen wie der Hustenreiz. »Ich habe gesehen, was in dieser Kammer wohnt. Dort, vor der Höhle. Vor dem Wolf. Bis zu den Knien habe ich in Blut gestanden. Ich bin hindurchgewatet. Es war   … entsetzlich. Ich habe Wellen gemacht. Und auf den Wellen tanzten die Köpfe meiner Kinder. Ich habe   … Ich hatte sie selbst abgeschlagen, ich! Ich konnte mein Schwert nicht mehr heben. Der Falke hat mich gerettet, und Babu. Ich selbst hätte nichts mehr tun können, ich stand bis zu den Knien in meiner Schuld.«
    Reva schwieg dazu. Aber es war endlich heraus. Dass er seine Kinder nicht wirklich erschlagen hatte, sondern nur in Gedanken, war keine Erleichterung für Felt gewesen, und Wigos Worte hatten ihn nun noch mehr entsetzt: Das Undenkbare war möglich. In Felt, in einer dunklen Kammer seiner Seele, wohnte die Fähigkeit zu einer solchen Tat. Bis jetzt hatte er sich nicht vorstellen können, was es bedeutet, all seiner menschlichen Fähigkeiten beraubt zu werden   – dabei hatte sich die Tür zur Kammer bereits ein Mal geöffnet und er hatte gesehen, was von ihm übrig bleiben würde, wenn alles andere versiegt und verbrannt war: ein Vater, der seinen eigenen Kindern die Köpfe abschlug und in ihrem Blut badete.
    Er hatte es überstanden. Er hatte die Tür wieder geschlossen.
    Reva sah ihn ernst und aufmerksam an. Sie wartete, bis Felt begriffen hatte, wie schwer die Prüfung gewesen war. Dann senkte sie wieder den Blick und las weiter.
    »›Asing ist im Feuer, dort, wo es sie immer schon hingezogen hat. Im Feuer, das tief in der Erde fließt, noch unter dem Wasser. Was ihre Absicht ist, liegt auf der Hand: Sie will uns die Menschlichkeit entreißen, so wie sie ihr entrissen worden ist. Jeder von uns soll den Flammentod erleiden, den sie erlitten hat. Ihr Zorn und ihre Wut werden uns verbrennen. Die Erde wird beben. Tiere werden zu Bestien werden. Der Boden wird aufreißen und heiße Lava bluten. Der Kontinent wird in Flammen aufgehen.
Der Mensch wird die Welt nicht mehr verstehen.
Und mit jeder Erschütterung, die den Grund unter seinen Füßen erzittern lässt, mit jedem Riss, der sich öffnen wird, mit jedem Tier, das ihn wie aus dem Nichts anfällt, mit jedem Brand, der ihn zu verschlingen droht, wird auch der Mensch erschüttert werden. Bis endlich die Tür aufspringt und er von seinem Grauen überrannt wird. Dann wird sein Seelengebäude endgültig über ihm zusammenbrechen und ihn unter den brennenden Trümmern begraben. Was übrig bleibt, ist Asche.
    Mit anderen Worten: Wir werden sterben, und zwar bald, denn nichts kann Asing aufhalten. Sie ist hier, in unserer Welt, aber sie ist nicht fassbar, sie ist gestaltlos. Sie ist lodernde Wut, brennender Hass, glühende Rachlust. Sie ist in den tiefen Feuern der Erde und sie ist in jedem von uns   – sie ist der mächtigste Dämon, den man sich denken kann: Asing ist die Glut des Bösen. Sie ist nicht aufzuhalten, denn die Quellen versiegen. Wir haben ihr nichts entgegenzusetzen. Wir können die Wut nicht mehr mit Versöhnlichkeit löschen   – denn sie ist aus der Welt. Wir können den Hass nicht mehr mit Liebe bändigen   – dennes gibt sie nicht mehr. Wir können die Rache nicht mehr im Verzeihen ertränken   – denn niemand wird mehr wissen, wie das geht. Wir werden brennen, alle. Es kann nur noch darum gehen, dass wir währenddessen nicht in den finstersten Raum unserer Seele schauen müssen. Schon dies wird unendlich schwer werden und nur wenigen gelingen. Ich hoffe für die, die meine Freunde sind, und für mich selbst, nicht allein im Schrecken sterben zu müssen. Ich hoffe, jemand wird da sein und mir dabei helfen, die Tür zur Kammer zuzuhalten. Ich mag es kaum aufschreiben, aber ich will den Gedanken festhalten: Es wäre ratsam, möglichst bald zu sterben. Denn je weiter der Weltenlauf fortschreitet, je mehr Quellen versiegen, desto schwieriger wird es sein, einen Menschen zu finden, der noch Mensch genug ist, um einen anderen in den Tod zu begleiten.‹«
     
    Da war er also, der Tod. Er war schon längst aufgetreten und Felt hatte die Vorstellung gesehen   – er hatte gesehen, wie die schwarzen Bestien sich auf das Mädchen, auf die jungen Kaufleute, auf die Soldaten, auf Gerder gestürzt hatten. Er hatte gesehen, wie die Menschen zusammengebrochen waren,

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