Zwölf Wasser Zu den Anfängen
vom Ende des Kontinents, inszenieren müsste – was ich glücklicherweise nichtmuss, das übernimmt der Weltenregisseur –, dann würde ich Asing und Asli ein zweites Mal aufeinandertreffen lassen. Aber wie das nun gehen soll, da sie doch beide seit über hundert Soldern tot sind? Nun, sie sind zwar tot, aber nicht aus der Welt. Sie sind noch hier, alle beide, und warten auf ihren großen, letzten Auftritt … Ich verlasse das Theater, das ich nur benutze, um die Ungeheuerlichkeiten zu versinnbildlichen, die zurzeit vorgehen und die doch nicht wahrgenommen werden, und kehre in die Wirklichkeit zurück.
Was geschieht? Was wird geschehen? Welche Zeichen habe ich übersehen? Wo finde ich das Buch, das mir die Zusammenhänge offenbart? Das waren die Fragen, die ich mir zu Beginn des letzten Lenderns stellte. Ich bin eben ein Mensch und glaube das, was ich sehe, noch lieber das, was ich lese. Aber die Geschichtsschreibung ist empörend lückenhaft. Also musste ich selber denken – und deuten. Und das Buch der Antworten selber schreiben: Diese Aufzeichnungen hier haben zum Ziel, die Lücken zu schließen; ich begleite die Unda Reva auf ihrer Reise und werde Beweise sammeln für das, was zur Zeit noch Theorie ist, wenn auch eine sehr stichhaltige – man möge mir das Eigenlob verzeihen. Meine Theorie ist diese: Die Kraft
einer
Quelle war nicht ausreichend, um das Feuer, das in Asing brannte, das Feuer, das sie
war
, auszulöschen. Eine solche Energie, eine solche Kraft, geht nicht so einfach verloren … Vielleicht, wenn
alle
Quellen, wenn alle Zwölf Wasser über die Ufer getreten wären, wenn der ganze Kontinent überflutet worden wäre – vielleicht hätte das genügt, um Asing endgültig aus unserer Welt zu vertreiben. Allerdings wären wir in diesem Fall alle nicht mehr hier, dann wäre die Menschheit schon vor hundert Soldern vom Kontinent geschwemmt worden. Aber ich behaupte: Das wäre unser Glück, das wäre eine Gnade gewesen. Denn was uns nun bevorsteht, ist sowohl für jeden Einzelnenals auch für uns als Gesamtheit schlimmer, als in einer großen Flut zu ertrinken. Uns erwartet ein Flammentod, weit grausamer und gewaltiger als der, der über Welsien gekommen ist. Asing wird uns verbrennen, jeden für sich im Feuer verglühen lassen, und sie wird den Kontinent auseinanderreißen – ganz so, wie sie selbst zerrissen worden ist. Wie?
Nun, in der Seele jedes Menschen gibt es wenigstens einen Raum, und mag es die kleinste Kammer sein, der dunkel ist. Wenn alles gut geht, wenn der Mensch ein einigermaßen erfülltes Leben führen kann und wenn er nicht zu sehr erschüttert wird, kann er diesen Raum verschlossen halten. Er muss nicht hineinsehen, er hat Besseres zu tun, und die Tür springt nicht von selber auf. Der Mensch kann in seinem Seelengebäude herumspazieren und es einrichten, wie es ihm passt: Er kann beispielsweise Herzlichkeit hineinstellen oder Großmut, Ehrlichkeit oder Treue, Mäßigung oder Weisheit, Tapferkeit oder Willensstärke – die Auswahl ist groß. Manche nehmen von allem ein wenig, andere von einem viel. Und, wir wissen es, nicht alle Räume in unserem Seelengebäude sind immer sauber und aufgeräumt. Wenn man nicht ständig hinterher ist, legt sich Staub auf die Möbel … Aber die finstere Kammer bleibt verschlossen. Denn was da drin ist, darum kümmert man sich besser nicht – mit ein wenig Dreck kann man leben; dem Grauen zu begegnen, das
in einem selber
wohnt, ist zu entsetzlich.
Asing wird die Türen in uns öffnen und das Grauen herauslassen. Ihre Zornesfunken werden unsere Seelengebäude in Brand setzen und wir haben nichts, womit wir löschen könnten, denn die Quellen versiegen – warum sonst wären die Undae besorgt, warum sonst würden sie sich auf die Reise machen? Sie, die seit der Alten Zeit geschwiegen haben, die nichts getan haben, außer zu bewahren, greifen nicht ohne Grund ins Geschehen ein. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie die Ursachekennen für das, was vorgeht. Ich möchte mir nicht anmaßen, mehr zu wissen als eine Unda … Aber Asing ist ins Feuer gegangen, mehr noch, sie hat sich aufgegeben, hat ihr Menschsein abgeworfen und ist Feuer
geworden
. Niemand hat sie davor bewahrt. Niemand hat Asing aufgefangen. Die Wege des Feuers sind für die Undae nicht gangbar. Was Asing ist, wo Asing ist,
das können die Undae nicht wissen
.‹«
Felt hätte gern noch einen Schluck Wasser gehabt, aber der Becher war leer. Reva
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