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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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irgendwo am Himmel. Daran ließ sein Körper sich über den scharfen Grat zwischen zwei Gipfeln zerren, während Babus Geist den Abgrund und die Gefahr nicht mehr wahrnahm. Er schaffte es, ohne zu wissen, was er geleistet hatte. Aber als er die Flanke des nächsten Berges erreicht hatte, als er wieder in Schnee einsank, tief, tiefer als je zuvor, riss der Faden und Babu stürzte ab.
    Er fiel.
    Fiel und fiel in seine Kindheit, in das Lächeln seiner Mutter. Er fiel in den Sattel seines Ponys, das lebte und ihn mit einer Kraft über die Ebene trug, dass die Hufe kaum die Spitzen der Gräser berührten. Babu fiel ins silberne Wasser der Merz, in die weichen Felle in seinem Zelt, in die eigene Begeisterung, er fiel ins Glück, das in der Luft über den gesenkten Häuptern grasender Kafur flirrt. Dann schlug er am Boden seiner Seele auf und es wurde dunkel.
     
    Auch für ein Wesen mit weniger scharfen Augen wäre es einfach gewesen, Babus Sturzspur im ringsum unberührten Schnee zu erkennen. Aber nur Juhut konnte ihr folgen. Dann kreiste er über der Stelle, wo eine weiße Wolke ihm den Blick auf die Schneemassen nahm, die mit Babu ins Hochtal gerutscht waren. Juhut würde in der Luft bleiben, bis sich der Schneestaub gelegt hatte. Er würde bleiben und kreisen und beobachten, was unter ihm geschah, so wie er es immer tat. Er würde fliegen, bis es nicht mehr ging, und dann würde auch er fallen.
    Zeit war eine Dimension, die Juhut unbekannt war. Er konnte nicht denken, dass sich mit ihrem Fortschreiten die Strecke zum Tod immer weiter verkürzte. Er hatte keinen Begriff vom Tod, der dem Verschütteten bevorstand, der ihm selbst bevorstand. Der Falke kannte nur das Töten, das war seine Natur, vom Sterben wusste er nichts, denn er war ein Jäger und niemals die Beute.
    Nun waren andere Jäger aufgetaucht.
    Erst waren es nur Halblichter gewesen, dunklere Flecken im blendenden Weiß, die schnell wie die Schatten von Zugvögeln über die weite Schneefläche des Tals glitten. Aber da waren keine Vögel, keine Wolken, nicht einmal ein Wind   – der Himmel über dem Falken war leer. Und aus den eilenden Schattenwuchsen Konturen. Das Dunkle verdichtete sich und nahm Gestalt an, es gebar sich selbst aus der Bewegung heraus, das waren Pfoten, und sie liefen. Jetzt spritzte der lose Schnee, jetzt sah man ihre Spur, die im Nichts begann und unter Juhut enden würde.
    Wölfe.
    Ein ganzes Rudel Wölfe hatte Witterung genommen von einem Bewusstsein, das sich verzweifelt dagegen wehrte zu verlöschen.
    Lange ging das nicht mehr, sie mussten sich beeilen, sie hetzten sich gegenseitig, schnappten nach den Läufen der anderen, jeder gegen jeden und jeder wollte der Erste sein. Aber nur einer war es. Als er die Stelle erreichte, aus der der Geruch der Verzweiflung strömte, und seine Schnauze in den Schnee stieß, war aus ihm der Größte des Rudels geworden. Ein schwarzes Biest, das gewachsen war aus Seelenqual und belebt wurde von Todesangst. Scharren mussten sie alle, aber nur ihm würde die Beute gehören und die anderen würden sich zufriedengeben müssen mit dem, was übrig blieb. Ein Rest, der kläglich sein würde. Aber schon allein die Möglichkeit, einen kurzen Blick auf eine angsterfüllte Seele zu tun, genügte, um sie anzutreiben.
    Der Falke sah die scharrenden Wölfe. Er wunderte sich nicht über ihr plötzliches Erscheinen, über ihre Geburt aus den Schatten, über ihre Gier nach dem menschlichen Bewusstsein, das im Sterben lag   – denn er konnte sich nicht wundern. Er konnte nur sehen und er konnte wissen. Wissen, dass nirgendwo auf der Welt, nicht einmal in dieser schier endlosen Einöde aus Schnee und Stein, Platz war für mehr als einen Jäger.
     
    Babu sah keine Wölfe. Er fand sich an einem Ort wieder, den er so gut kannte, dass seine Erinnerung keine Schwierigkeiten hatte, ihn vor seinen Augen auszubreiten. Er war zu Hause, imLangen Tal. Er stand allein im gelben Gras, die untergehende Sonne war nur noch ein Glühen, weit entfernt an einem Horizont, der ihm fremd erschien. Babu wandte den Kopf und der Horizont drehte sich mit. Der Glühbogen der Sonne blieb in seinem Blickfeld, wohin er auch schaute, es bot sich immer dasselbe Bild: Gras, Sonnenrest an violettem Himmel mit zarten Wolkenschleiern. Weder im Gras war eine Bewegung noch am Himmel, die Wolken wie angeheftet, die Halme versteinert. Irritiert fuhr Babu mit der Hand hindurch, das Gras bog sich, er machte ein paar Schritte, drehte sich abermals um. Als

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