Zwölf Wasser Zu den Anfängen
wäre nichts geschehen. Kein einziger Halm geknickt, keine Spur: Er stand im gelben Gras, die untergehende Sonne war nur noch ein Glühen, weit entfernt an einem Horizont, der ihm fremd erschien. Jetzt griff er hinein, mit beiden Händen, drehte und riss Grasbüschel aus. Er hielt sie in den Händen, aber ausgerissen hatte er dennoch nichts. Keine Spur. Er stand im gelben Gras, allein, und das war alles.
Furcht überkam ihn, er musste tief Luft holen, niemals zuvor hatte er eine solche Angst verspürt. Er hatte keine Schmerzen. Er wurde nicht bedroht. Dennoch war er angefüllt mit Angst, urplötzlich, als sei ein reifes Geschwür in seinem Innern aufgebrochen, dessen ätzender Ausfluss in jede Körperhöhle drang. Babu war gefangen in einer Unausweichlichkeit, für die es keine Erklärung gab. Hier stand er, im gelben Gras, durch das kein Zittern ging, unter einem Himmel, der täuschend wirklich schien, aber doch nur gemalt, nur das unbewegte Abbild eines Himmels war, und sein Körper war starr vor Furcht. Im Kopf wirbelte ein einziger Gedanke: Was tun?
Kein Zirpen, kein Hauch, tonlose Unbeweglichkeit und auch er selbst nicht mehr in der Lage, sich zu rühren. Aber ein Geruch. Streng, scharf, wohlbekannt. Mit Mühe schaffte es Babu, die Augen zu drehen: Das war ein Feuer, das war Kafurdung,der da brannte, im Lager. Und als er es erkannte, stand er auch schon zwischen Zelten.
Hier nun war ein Wind, das Feuer flackerte, die Zelte zogen an den Leinen, der Himmel hatte sich mit einem Schlag entfärbt und schwere Wolken wälzten sich darüber. Wo waren die Menschen? Hineingegangen in der Erwartung eines Sturms? Babu wagte einen steifen Schritt. Er konnte die Furcht nicht abschütteln. Sollte er hineinsehen in eines der Zelte? Zu welchem Clan gehörten sie überhaupt? Babu sah keine Zeichen.
Aber da, da war ein Gesicht.
Ganz kurz ein Blick aus schmalen, dunklen Augen, dann war der Zelteingang wieder dicht gezogen. War das ein Kind gewesen? Der helle Fleck des Gesichts war klein gewesen, aber die Augen … Waren die Augen nicht alt gewesen? Der Blick feindselig? Babu konnte es nicht entscheiden, zu schnell war der Moment vorbei gewesen.
Der Wind nahm zu. Riss an Babus Haaren, zerrte an seinem Mantel, seinen Hosen. Toste in seinen Ohren, machte ihn taub. Kalt war er, dieser Wind, Babu begann zu zittern, er musste nach drinnen oder er würde erfrieren. Er stemmte sich gegen die Luftmassen, die hart wie Kafurleiber waren und ihn nicht durchlassen wollten. Babu strauchelte, ging auf alle viere, dann drückte er sich flach an den Boden, hielt sich am platt gestampften Gras fest, zog sich daran bis vor das Zelt. Das Zelt, in dem das Kind war. Vielleicht ein Kind war. Wahrscheinlich etwas war, das ein Kind sein könnte, dessen böser Blick ihn abschreckte, dessen Anwesenheit ihn aber anzog. Er wollte nicht allein sein. Jetzt begriff er, dass Einsamkeit die Quelle seiner Furcht war, denn so vollkommen einsam wie hier hatte er sich nie gefühlt. Er hatte die Einsamkeit gesucht, war vor den Menschen mehr und mehr geflüchtet, weil er sie nicht mehr verstandenhatte, weil ihm unwohl geworden war zwischen ihnen. Und nun waren alle Menschen verschwunden und mit ihnen alles Leben und die Einsamkeit war so total, so alles durchdringend, dass es Babu vorkam, als könnte er sie einatmen mit der kalten Luft, die ihn bedrängte.
Er löste mit klammen Fingern die Leine, die den Lederlappen vorm Eingang sicherte, und robbte in den warmen Dämmer des Zeltinnern.
»Ich habe dich nicht hineingebeten.«
Die Stimme kannte er. Das war nicht die Stimme eines Kindes. Das war sein Onkel, das war der Thon, der mit dem Rücken zu ihm stand, den Kopf gesenkt, und Babu tadelte. Sein dicker Zopf bewegte sich wie eine schwarze Schlange über die im Zwielicht schimmernden Metallplättchen seines Wamses, als er den Kopf schüttelte.
»Babu, mein lieber Babu, mein Neffe. Macht, was er will. Hat keine Manieren. Sein Glück, dass meine Geduld grenzenlos ist wie mein Land.«
Er sprach ruhig, aber Babu hörte die Drohung hinter den Worten. Er scherzte nicht. Der Thon war verärgert. Er machte Babu Angst, warum wandte er sich nicht um? Babu fühlte, dass er erst würde sprechen können, wenn der Thon ihn ansah. Aber das tat er nicht. Er zeigte sein Gesicht nicht. Und Babu war zum Schweigen verdammt.
Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das Halbdunkel im Zelt, kein Feuer, kein Talglicht brannte und in allen Ecken saßen Schatten. Und in den
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