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Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Zwölf Wasser Zu den Anfängen

Titel: Zwölf Wasser Zu den Anfängen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Greiff
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hatte sie ihn sich ausgesucht   – sie wusste, dass sie an seiner Treue niemals zweifeln musste. Und deshalb hatte ihn auch der Hauptmann ausgesucht: weil er bis zum Letzten gehenwürde. Nichts konnte Felt davon abbringen, einen Befehl auszuführen, nicht einmal Estrid.
    »Ich werde zurückkommen, ich verspreche es dir«, sagte Felt in die Dunkelheit hinein. Das Feuer war bis auf ein Glimmen heruntergebrannt und die Sonne wollte und wollte nicht aufgehen.
    »Mag sein«, antwortete ihm Estrids Stimme ruhig, »aber ich werde dann nicht mehr hier sein.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich, wir, wir werden diese Stadt verlassen. Diesen Stein, diese Kälte.«
    »Aber warum denn? Hier ist deine Heimat!«
    »Ach, Felt, wann willst du es endlich begreifen? Du bist meine Heimat. Wenn du fort bist, habe ich kein Zuhause mehr. Aber ich habe unsere Kinder und ich werde sie nicht in diesem Sturm lassen, in diesem ewigen, schrecklichen Wind, in diesem Schnee, in dieser Einöde. Ich bin es so leid.«
    Das Holzscheit fiel mit einem trockenen Ton in sich zusammen und die aufstiebenden Funken erhellten einen Wimpernschlag lang Estrids Gesicht. Sie lächelte.
    »Du kennst mich schlecht«, fuhr sie fort, »wenn du geglaubt hast, ich könnte hier, in diesem Haus, auf dich warten. Wozu denn? Warum muss ich denn jeden Firsten hungern, damit genug für die Kinder bleibt? Warum muss ich diese knappen Rationen ertragen? Warum muss ich frieren? Wegen dir. Weil du hier bist. Ich kann das alles, es macht mir nichts aus, solange du hier bist. Ich kann eine Schuld abtragen, für Taten büßen, die ich nie begangen habe, wenn du hier bist. Ich kann mich fügen. Ja, glaub mir oder nicht, ich kann es! Und ich habe dir
bewiesen
, dass ich es kann! Aber nicht, wenn du mir nicht dabei hilfst, Felt!«
    Ihre Stimme war lauter geworden mit jedem Wort, das sie sagte. Felt spürte ihren Zorn, eine kalte Wut, die lange in Estridgeschlafen hatte und die nun aufgesprungen und hellwach war wie ein wildes Tier, das unmittelbar vom Ruhen ins Laufen wechseln kann, wenn es aufgeschreckt wird.
    Das war das echte Wesen der Welsen. Stolz, zornig und aufbrausend. Über Generationen lebten sie nun am Berg, unter widrigen Umständen, abhängig von der Versorgung durch andere wie kleine Kinder. Ausgelöscht war das Geschlecht ihrer Herrscher, in Asche verwandelt das fruchtbare Land, zu Staub zerfallen die ehemalige Hauptstadt. Und auch wenn keiner der Lebenden sich an eine andere Zeit erinnern konnte als diese, stand Estrid da, im Licht einer Dämmerung, die erst Ahnung war, und versammelte in ihrer stillen Spannung alles, was Welsien einst bedeutet hatte. Mutig, stark und selbstbewusst waren die Welsen gewesen, überzeugt davon, den richtigen Weg zu gehen. Eine Überzeugung, die sie erst mit anderen teilen, dann ihnen überwerfen wollten. Ihr Selbstbewusstsein bekam einen herrischen Zug, ihr Mut wurde waghalsig und ihre Stärke machte sie überheblich. Ohne dass sie es in ihrem Streben nach Größe bemerkten, begann sich Widerstand zu formieren. Und am Ende hatte die Allianz sie vernichtet. So wurden Krieger zu Wächtern, Schmiede zu Lieferanten, verbannt auf den Berg, den Abgrund mahnend vor Augen.
    Felt konnte es Estrid nachfühlen. Er hatte gewusst, wie sehr sie sich nach Veränderung sehnte. Endlich geschah etwas, etwas ging vor, und was auch immer es war, es griff nach ihnen und zerrte sie auseinander. So schnell, so gründlich? Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein.
    Ihm war die Vergangenheit gleichgültig. Es war die Gegenwart, die ihm diese Last auflud. Er hatte in seinem Leben schon zu viele Menschen sterben sehen, er war immer auf einen Abschied vorbereitet. Doch jetzt traf es ihn härter, als er erwartet hatte.
    Er sah seine Frau an, er hatte Glück gehabt. Ein erster violetter Schimmer des nahenden Morgens fiel auf Estrids Haare, streifte ihre Wange und es erschien Felt, als sei sie die wiederauferstandene Seele ihres Volkes, unsterblich. Dann war der Moment vorüber. Estrid wandte ihr Gesicht dem Licht zu.
    »Deine Wache beginnt«, sagte sie.
    Felt wollte sich erklären, wollte schwören und sich versöhnen. Aber er schwieg. Er richtete seine Rüstung, fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, um die Müdigkeit abzuwischen. Als er sich bei der Tür nach Estrid umdrehte, stand sie immer noch reglos, den Blick auf den neuen Tag gerichtet, und Felt spürte deutlich, dass sie bereits aus seinem Leben hinaus und in ein anderes getreten war.

 
    SECHSTES

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