Zyklus der Erdenkinder 04 - Ayla und das Tal der Grossen Mutter
grasbewachsenen Ebene des Flusses, trottete eine kleine Herde Auerochsen entlang. Die Wildrinder waren riesig, hatten massige Hörner und ein zottiges Fell, bei den meisten Tieren von einem so dunklen Rot, daß es fast schwarz wirkte.
Fast gleichzeitig sahen Ayla und Jondalar einander an, nickten sich zu; dann riefen sie ihre Pferde herbei, befreiten sie schnell von den Packkörben, die sie in die Hütte brachten, griffen nach ihren Speerschleudern und Speeren, saßen auf und ritten zum Fluß hinunter. Als sie sich der grasenden Herde näherten, machte Jondalar halt, um die Lage zu beurteilen, und sich über die Angriffsmethode klarzuwerden. Ayla folgte seinem Beispiel und machte ebenfalls halt. Sie kannte sich mit Raubtieren aus, insbesondere mit den kleineren, obwohl sie auch schon größere Tiere wie Luchse und Höhlenhyänen erlegt hatte, aber mit den Weidetieren, die normalerweise als Nahrungslieferanten gejagt wurden, war sie weniger vertraut. Als sie allein lebte, hatte sie zwar ihre eigenen Methoden entwickelt, um sie zu erbeuten, aber Jondalar war mit der Jagd auf sie aufgewachsen und hatte wesentlich mehr Erfahrung.
Vielleicht weil sie in einer Stimmung gewesen war, die sie veranlaßt hatte, mit ihrem Totem und der Welt der Geister zu reden, war Ayla, als sie die Herde beobachtete, in einer merk-
würdigen Geistesverfassung. Irgendwie hatte sie das Gefühl, daß es kein Zufall sein konnte, daß genau in dem Augenblick, in dem sie glaubte, daß die Mutter nichts dagegen haben würde, wenn sie ein paar Tage blieben, um Verlorengegangenes zu ergänzen und ein Tier mit einer kräftigen Haut und viel Fleisch zu erbeuten, eine Herde von Auerochsen auftauchte. War es ein Zeichen, von der Mutter oder auch von ihrem Totem, daß die Tiere hier erschienen waren?
Ungewöhnlich war das jedoch nicht. Das ganze Jahr hindurch und besonders im Sommer wanderten die verschiedensten Tiere, allein oder in Herden, durch die Galeriewälder und über das üppige Grasland der großen Flußtäler. An jeder beliebigen Stelle in der Nähe eines größeren Wasserlaufs konnte man mindestens alle paar Tage irgendwelche Tiere sehen, und zu manchen Zeiten zogen täglich ganze Herden vorüber.
"Ayla, siehst du die große Kuh dort drüben?" fragte Jondalar. "Die mit dem weißen Fleck auf der linken Schulter?"
"Ja", sagte sie.
"Ich glaube, wir sollten es mit ihr versuchen", sagte Jondalar. "Sie ist ausgewachsen, aber, nach der Größe ihrer Hörner zu urteilen, noch nicht zu alt, und sie hält sich ein wenig abseits."
Ayla überlief ein Schauder. Jetzt war sie überzeugt, daß es ein Zeichen war. Jondalar hatte sich für das ungewöhnliche Tier entschieden! Das mit dem weißen Fleck! Wann immer sie in ihrem Leben vor einer schwierigen Wahl gestanden hatte und es ihr nach langem Nachdenken gelungen war, eine Entscheidung zu treffen, hatte ihr Totem bestätigt, daß es die richtige war, indem es ihr ein Zeichen gegeben, ihr irgendeinen außergewöhnlichen Gegenstand gezeigt hatte. Als sie ein Kind war, hatte Creb ihr erklärt, was es mit solchen Zeichen auf sich hatte; er hatte ihr geraten, sie als Glücksbringer zu behalten. Viele der kleinen Gegenstände, die sie in dem verzierten Beutel an ihrem Hals trug, waren Zeichen von ihrem Totem. Das plötzliche Auftauchen der Herde von Auerochsen, nachdem sie sich zum Bleiben entschlossen hatten, dazu die Tatsache, daß Jondalar das ungewöhnliche Tier gewählt hatte – all das hatte
viel Ähnlichkeit mit einem solchen Zeichen.
Obwohl die Entscheidung, in diesem Lager zu bleiben, ihnen beiden nicht sonderlich schwergefallen war, war es doch eine wichtige Entscheidung gewesen, die ernsthaftes Nachdenken erfordert hatte. Dies war das Winterquartier einer Gruppe von Leuten, die die Macht der Mutter beschworen hatten, es während ihrer Abwesenheit zu beschützen. Zwar war es vorbeikommenden Fremden gestattet, es zu benutzen, aber sie mußten einen triftigen Grund dafür haben. Man zog sich nicht leichtfertig den Zorn der Mutter zu.
Auf der Erde wimmelte es von Lebewesen. Sie hatten auf ihrer Reise unzählige Exemplare der verschiedenartigsten Tierarten gesehen, aber nur wenige Menschen. In einer so menschenleeren Welt lag Trost in dem Gedanken, daß ein unsichtbares Heer von Geistern um ihre Existenz wußte, ihr Tun verfolgte und vielleicht ihre Schritte lenkte. Selbst ein gestrenger oder feindseliger Geist, der bestimmte Be-schwichtigungsriten verlangte, war besser als die herzlose
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