aufrechterhalten kann. Aber es erfährt zugleich, wie die Eltern dies tun, nämlich mit inszenierten Übertreibungen. So versucht es nun auch selbst, seine emotionalen Defizite durch auffälliges Verhalten zu beheben. Es beginnt ebenfalls, sich zu inszenieren.
Darauf nun reagieren die Eltern endlich wenigstens kurzfristig mit der erwünschten Zuwendung, das Kind erlebt den Erfolg seiner Inszenierung und lernt entsprechende Strategien, deren Inhalte und Intensität es von Person zu Person variabel einsetzt. So entwickelt es positive Strategien, wie »unterhaltsam sein«, »verführerisch sein«, »gut aussehen«, und negative Strategien, wie die Produktion von Krankheitssymptomen oder inszenierte Aggressivität. Gemeinsam ist allen die Erfahrung, daß unmittelbar geäußerte Wünsche nicht, dramatisch inszenierte hingegen fast immer befriedigt werden. Diese Erfahrung führt auf Dauer auch beim Kind zu stark situationsabhängiger Affektivität ohne Tiefgang: Es kann sich nicht selber lieben, also drängt es die anderen ständig dazu, dies zu tun. Dies zeigt sich später, im frühen Erwachsenenalter u. a. in der Art der Partnerwahl. Der Histrio sucht als Lebenspartner einen verläßlichen Menschen, der ihn in einer stabilen Beziehung hält und führt (vgl. Willi, 1997). Insgesamt ist seine Persönlichkeit durch ein »patchwork« von Verhaltensweisen gekennzeichnet, die er in seiner Umwelt beobachtet und von denen er glaubt, daß sie ihm die gewünschte Aufmerksamkeit verschaffen.
Ist der Histrio also der neue Sozialcharakter? Es sieht so aus, ist er doch von der Emotionalität her gesehen der ideale Gefühlsarbeiter. Aber ein möglicher Einwand ist noch zu entkräften. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit strebt, nach Bewunderung dürstet, andere für eigene Zwecke manipuliert ja der Narzißt genauso wie der Histrio. Warum also soll der Histrio den Narzißten als neuer Sozialcharakter ablösen? Die Antwort liegt einmal in den familiären Entstehungsbedingungen: Als Ursache für das Entstehen einer narzißtischen Persönlichkeit wird ja vor allem der Einfluß dominierender, kalter und zugleich überfürsorglicher Mütter gesehen, die den eigenen unerfüllten Ehrgeiz an ihrem (häufig einzigen) Kind auslassen. Histrionische Charaktere entstehen hingegen in familiären Kontexten, die durch längere Bindungsunsicherheit und mangelnde mütterliche Zuneigung, geringe Impulskontrolle, ausweichendes Verhalten und theatralische Inszenierungen gekennzeichnet sind. Das entscheidende ist aber die früh erfahrene Bindungsunsicherheit. Und besonders in diesem Punkt zeigen sich die gesellschaftlichen Trends der Globalisierung und Individualisierung und der damit verbundenen Lösung der Menschen aus ihren traditionellen Bindungen in den individuellen Schicksalen: Wenn die Erfahrung der individuellen Bindungsunsicherheit in eine insgesamt durch zunehmende Bindungsunsicherheit gekennzeichnete Gesellschaft eingebettet ist, dann (vor allem) entsteht ein neuer Sozialcharakter. So schaffen gesellschaftliche Verhältnisse den zu ihnen passenden Sozialcharakter, und so entsteht individuelles Unglück aus kollektiven Lebensbedingungen.
Bindungsunsicherheit ist es aber nicht alleine, die den Histrio entstehen läßt. Auf individueller Ebene kommt ja noch ein entscheidendes Merkmal hinzu, die Erfahrung des Erfolgs theatralischer Inszenierungen. Und das ist der entscheidende Punkt: Auch in diesem Punkt findet sich auf gesellschaftlicher Ebene wieder, was individuell erfahren wurde. Zum einen verlangt, wie erwähnt, die Dienstleistungsgesellschaft mehr als jede andere Form effiziente Gefühlsarbeit. Zum anderen aber liefern die Medien ununterbrochen Beispiele für theatralische Inszenierungen, mit denen Menschen mindestens Aufmerksamkeit, oft genug auch Zuwendung und Erfolg erreichen. Bindungsunsicherheit und Medialisierung zusammen sind der ideale gesellschaftliche Nährboden für den Histrio. Ja, so lautet jetzt die Antwort auf die oben gestellte Frage, der Histrio und nicht der Narzißt ist der neue Sozialcharakter der globalen Inszenierungsgesellschaft. Und so ist er nunmehr insgesamt hinsichtlich seiner Emotionalität, seines Denkens und seines Verhaltens zu beschreiben (vgl. dazu Blacker & Tupin, 1991):
Seine Gefühle sind schnell erregt, flach, oberflächlich, labil, theatralisch und wenig differenziert. Er neigt zu (oft: aggressiven) Gefühlsausbrüchen, verbunden mit anschließenden depressiven Verstimmungen.
Sein Denken ist
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