0011 - Das Todesschloß
lebendige Menschen mit ihren kleinen und großen Sorgen.
Gordon Maxwell blieb stehen. Seine Lungen pfiffen wie die Lokomotive der kleinen Lokalbahn an einer Steigung, die Halsschlagadern pochten im Rhythmus des aufgewühlten Blutes. Nur langsam gewann Gordon Maxwell seine Fassung zurück.
Zuerst mußte er den Bürgermeister informieren und dann Lionel Goldwater, den Dorfpolizisten. Auf dem Wege zum Hause Jack Hills, des Bürgermeisters, wurde ihm zur stillen Gewißheit, daß er nichts davon sagen würde, daß die Tote geredet hatte. Zu unglaublich war, was ihm widerfahren war. Niemand würde es ihm glauben.
Hatte die Tote wirklich gesprochen? Oder hatte er dieses Erlebnis nur dem Schock zuzuschreiben, der ihn wie ein Hammerschlag getroffen hatte, als er Gladys of Blakeborne mit einem Dolch im Herzen im brackigen Wasser gefunden hatte, inmitten der unwirklichen Landschaft um Exmoor Castle, durchwirbelt von Nebelzungen, die wie kalte Flammen an Büschen und Bäumen leckten?
Gordon Maxwell schüttelte den Kopf. Nein! Er würde nichts sagen!
Kräftig und laut pochte er gegen die Tür des Hauses, in dem Jack Hill wohnte.
Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde.
Klara, die Frau des Bürgermeisters, stand im Morgenmantel vor dem Fischer. »Gordon? Du bist es? Was willst du so früh am Morgen?«
»Ich muß unbedingt Jack sprechen. Es ist was Furchtbares passiert. Die Kleine vom Earl of Blakeborne – sie liegt mit durchstochener Brust draußen im Moor!«
»Gladys? Mein Gott! Das darf es doch nicht geben!«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Es ist wahr. Ist Jack schon wach?«
»Nein. Aber ich wecke ihn sofort. Warte hier. Er ist in einer Minute fertig.«
Klara Hill bewegte ihre Körperfülle mit watschelndem Gang in das Halbdunkel des Flures zurück. Die Treppe knarrte, als sie zum Schlafraum im ersten Stock hinaufstieg. Maxwell hörte ihre – gemessen an ihrer Figur – viel zu hohe Stimme bis herunter. Dazwischen mischte sich das brummige Organ des Bürgermeisters.
Es dauerte zwei Minuten, bis Hill schnaubend den Eingang erreichte. Mit einer Hand schlenzte er noch den Hosenträger auf die Schultern.
»Was sagst du, Gladys ist tot?«
Maxwell nickte.
»Ich habe ihre Leiche an Land gezogen und alles so gelassen, wie es war.«
»Warst du schon im Schloß?«
»N-nein. Ich war nicht dort. Ich bin einfach davongerannt. Sofort hierher.«
Jack Hill brummte etwas, das sowohl Zustimmung als auch Ablehnung bedeuten konnte. »Jedenfalls werden wir sofort Lionel Goldwater holen«, sagte er dann deutlich.
Vom Nagel hinter der Tür holte er sich noch seine Jacke, und dann stapften die beiden los. Sie achteten nicht auf die wenigen Männer, die sich zu dieser frühen Stunde bereits in die nasse Kälte hinauswagen mußten, doch der Bus nach Ilfracombe, wo sie in den Kutterwerften arbeiteten, ging schon um sechs Uhr ab von der Hauptstraße, neben der sich etwas abgelegen Exmoor Village zwischen zwei niederen Hügelketten ausbreitete.
Die Arbeiter und die beiden Männer hatten denselben Weg. Das schmalbrüstige graublaue Häuschen, in dem die Polizeistation untergebracht war und in dem auch Lionel Goldwater mit seiner Frau und seiner dürren Tochter lebte, stand am Ortsrand von Exmoor Village. Als eines der wenigen Häuser im Dorf hatte es einen Klingelknopf.
Jack Hill drückte ihn, bis ein Rumoren im Haus ihm sagte, daß er seine Bewohner wachgeläutet hatte. Lionel Goldwater öffnete selbst.
Er war dünn wie ein Strich in der Gegend. Hohlwangig und ungesund gelb im Gesicht, war er ein lebendes Mahnmal dafür, daß Seine Majestät englische Dorfpolizisten viel zu schlecht entlohnte. Lionel Goldwater war Jude, und er strafte mit seinem Aussehen all jene Lügen, die behaupten, gerade ihre jüdischen Mitbürger wären besonders geschäftstüchtig.
Lionel Goldwater rieb sich noch den Schlaf aus den Augen.
»Zieh dich schnell an, Lionel«, drängte der Bürgermeister. »Gordon hat im Schloßgraben eine Leiche gefunden. Er sagt, es wäre Gladys.«
»Gladys vom Schloß…?«
Lionel Goldwater wurde noch gelber im Gesicht.
»Die Tochter vom Earl?«
»Mit einem Messer in der Brust«, sagte Jack Hill.
Der Polizist fuhr ruckartig hoch. »Sofort!« krächzte er, seiner Stimme kaum noch mächtig. »Sofort!«
Er fuhr herum. Das Hemd hing ihm noch aus den Hosen, als er wiederkam. Das Koppel schlotterte um seine schmalen Hüften, und auf den Kopf hatte er seinen schwarzen Helm gesetzt. Man verlor keine weiteren Worte
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