0011 - Das Todesschloß
Sie kenne, haben Sie jeden Stein umgedreht, um nach alten ausgefransten Gespenstertüchern zu suchen. Oh, was tragen Sie denn dort unter dem Arm?«
Zamorra schlug sofort seine Jacke enger um das Kästchen, das er unter seinem Arm unter der Jacke hielt. Es sollte nicht gesehen werden. Er war sich nicht sicher, wie eventuelle Fragesteller es aufnehmen würden, wenn er ihnen hätte erklären müssen, daß er einen vermutlich giftsprühenden Kasten mit sich führte, in dem aller Voraussicht nach ein in Menschenhaut gebundenes Zauberbuch aus vergangenen Zeiten lag.
»Nichts Besonderes«, wehrte Zamorra deshalb ab. Er wußte, daß Nicole keine einfach dahingeworfene Erklärung schlucken würde.
Ihr Verstand war scharf. Zeit für langatmige Ausführungen blieb aber auch nicht. Die Stunden in der Schwarzen Burg waren wie im Fluge verstrichen. Die Dämmerung zeichnete sich ab, und die untergehende Sonne am inzwischen aufgeklarten Himmel warf lange Schatten. Auch der Mond war bereits über den Horizont getreten. Er war rund, bleich und voll.
Professor Zamorra wurde die Entscheidung darüber, was er Nicole sagen sollte, abgenommen, denn der Earl trat zu den beiden. Seine Nase glänzte bereits verdächtig rot. In seinen Augen funkelte ein ständig sprungbereiter Schalk.
»Hallo, Professor. Ich hoffe, Sie haben sich tüchtig gelangweilt.«
»Ihnen scheint das Gegenteil widerfahren zu sein«, schmunzelte Professor Zamorra.
»Ja«, antwortete der Earl. »Stellen Sie sich vor: Lord Francis versteht einen zu heben. Er nennt zwar jedes Getränk einfach Rum, doch den genießt er in vollen Zügen.«
Ernest Earl of Blakeborne hielt sich nicht länger beim Professor auf. Er schwankte weiter, auf neue Gesichter zu. Er war ganz in seinem Element.
»Ich denke, wir müssen uns jetzt umziehen«, sagte Zamorra zu Nicole. »Darf ich Sie in einer Stunde von Ihrem Zimmer abholen?«
»Gladys sagte mir, unsere Kostüme würden gut zusammenpassen. Sie werden ein schottischer Edelmann sein und ich ein Edelfräulein.«
»Ich soll einen Rock tragen?«
»Was soll daran so schlimm sein? Ich tue das auch hin und wieder.«
Nicole grinste auf ihre spezifisch unverschämte Art und tänzelte fast schwerelos die Treppe hoch.
Auch bei ihr hatte der Champagner schon mehr Wirkung gezeigt, als Professor Zamorra ursprünglich angenommen hatte. Zumindest waren ihm dadurch weitere peinliche Fragen erspart geblieben. Er folgte Nicole, die ihm noch einmal zuwinkte, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand.
Endlich konnte sich Zamorra ungestört seinem Kästchen widmen.
Schon auf dem Herweg war er öfter stehengeblieben und hatte es eingehend betrachtet. Der Sinn der Zeichen in den Ornamenten ging ihm nach wie vor nicht auf, doch er vermutete, daß sie keltische Gottheiten symbolisierten.
Das Kästchen war aus Bronze und mit einem silbrig glänzenden Anstrich versehen worden. In Anbetracht der Tatsache, wie alt es schon sein mußte, war es eine hervorragend feine Arbeit.
Der Verschluß bestand aus einem Metallstift, den man in die Frontseite zurückdrücken mußte, wollte man den Deckel entriegeln.
Zamorras scharfen Augen entging die scheinbar nutzlose winzige Vertiefung unterhalb dieses Knopfes nicht. Die Stelle sah aus, als hätte sich Staub dort abgesetzt.
Zamorra zog sein Taschenmesser aus der Jacke, klappte die Klinge heraus und drückte damit vorsichtig gegen den Metallstift.
Eine dünne, kaum sichtbare Nadel drang aus der winzigen Vertiefung.
Professor Zamorra wunderte sich nicht. Er hatte etwas Ähnliches erwartet. Eine sinnreiche Mechanik sorgte dafür, daß die Nadel hervordrang, sobald jemand das Kästchen entriegelte. Vermutlich war die Nadel vergiftet.
Es gibt toxische Substanzen, die ihre tödliche Gefährlichkeit auch nach Jahrhunderten noch nicht einbüßen. Ihnen mußte Meredith Gloombstones Vater zum Opfer gefallen sein.
Das Kästchen war offen. Professor Zamorra hatte sich nicht verletzt. Er nahm das hellbraune Buch heraus. Das Leder des Umschlags fühlte sich samtig an. Menschenhaut? Es konnte stimmen.
Die Seiten waren eng beschrieben. Der Text war in Runen abgefaßt, in der Schrift der normannischen Druiden. Professor Zamorra kannte die Zeichen von seinen Studien her. Die Sprache war ein altes Walisisch. Er hatte Mühe, ihre Bedeutung zu erkennen.
An die Ränder waren Bemerkungen und Zeichen gekritzelt, die jüngeren Datums sein mußten. Auch waren sie teilweise in altem Englisch abgefaßt; Ebenezer Gloombstone hatte beim
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