002 - Das Henkersschwert
Vermummte in drängendem Tonfall.
»Wir brauchen dich. Du bist unsere Waffe. Du wirst ihn vernichten.
Steh auf!«
Das Brummen wurde stärker. Eine bleiche Hand schob sich aus dem Sarg. Aus der Ecke des Zimmers drang ein leises Murmeln. Es wurde lauter, und die Hand bewegte sich unruhig. Die Finger waren lang, die Haut fast durchsichtig. Der Vermummte trat einen Schritt zur Seite.
»Wir haben Nahrung für dich«, wiederholte er und schritt rasch durch den Raum. An der Stirnseite des Kellers blieb er stehen. Die Fackel spendete genügend Licht. Der flackernde Lichtschein fiel auf eine junge Frau von vielleicht dreißig Jahren, die an die Wand gekettet war. Sie lag schräg auf einem Brett. Ihre Arme und Beine steckten in Stahlfesseln. Über ihren Mund hatte man ein breites Pflaster geklebt. Sie bewegte sich unruhig und stieß einen dumpfen Laut aus.
Ihre blauen Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen, sie flehten um Gnade. Die Bluse der Fremden war bereits an einigen Stellen zerrissen, und der kurze Rock entblößte glatte, pralle Schenkel.
»Komm und iß!« lockte der Vermummte.
Er schwenkte die Fackel hin und her und hielt sie schließlich dicht an den Kopf der Gefesselten. Der Sarg stürzte um, und dann war ein markerschütterndes Geschrei zu hören. Das Murmeln verstummte, und der Vermummte trat langsam einige Schritte zur Seite. Eine große, bullige Gestalt glitt aus dem Sarg und richtete sich auf. Das kleine, knochige Totenschädelgesicht bildete einen unheimlichen Kontrast zu dem gewaltigen Körper. Die Gestalt kam langsam näher. Der flackernde Schein der Fackel fiel auf ihr Gesicht, so daß die breite Narbe auf der linken Gesichtshälfte zu sehen war, die sich von der Stirn bis zum Kinn hinunterzog. Der Vermummte steckte die Fackel in einen Halter und zog sich in die Dunkelheit des Kellers zurück. Die unheimliche Gestalt aber schlich näher an die Frau heran. Sie bäumte sich verzweifelt auf, ihr Gesicht war von Angstschweiß bedeckt. Keuchend atmete sie durch die Nase.
»Nimm sie dir!« sagte die Stimme des Vermummten aus der Dunkelheit. »Nimm sie dir und erwache zum Leben! Wir lassen dich nun allein.«
Schritte waren zu hören, dann das Krachen einer Tür, die zugeworfen wurde. Danach wurde es still. Im Keller waren nur noch die gefesselte Frau und der Unheimliche, der jetzt ganz nah an sie herangetreten war und gierig den Mund aufriß. Als er seine dürren Hände auf ihren Leib preßte, bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Der Druck wurde stärker, und jetzt bekamen die Augen der Frau einen fiebrigen Glanz. Die Iris wurde stecknadelkopfgroß und verschwand schließlich ganz. Innerhalb weniger Sekunden wurde die Haut der Fremden welk; sie schien einzutrocknen. Das Haar fiel büschelweise aus; ihre Augen schlossen sich, und sie atmete langsamer. Der unheimliche Vorgang dauerte nur wenige Minuten. Dann straffte sich die Gestalt des Unheimlichen und richtete sich auf.
»Ich bin wieder zum Leben erwacht«, sagte er. »Ich, Bruno Guozzi.
Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, und ich brauche Kraft!«
Die gefesselte Frau war um Jahrzehnte gealtert. Ihr Gesicht war voller Falten, und sie hatte innerhalb von drei Minuten mehr als zwanzig Kilo verloren. Die Fackeln waren niedergebrannt. Es wurde dunkel im Keller. Dann war das Krachen von zersplitternden Knochen zu hören und ein schmatzendes Geräusch, das von zufriedenem Grunzen abgelöst wurde.
Zwei Stunden später betrat der Vermummte erneut den Keller.
Der Unheimliche hatte sich wieder in den Sarg zurückgezogen und lag bewegungslos mit geschlossenen Augen da. Diesmal hatte der Vermummte eine Taschenlampe bei sich. Der Lichtstrahl huschte über die Wände, über die Teufelsfigur und blieb am Brett hängen, wo die Frau gelegen hatte. Als er weiter nach links wanderte, riß er einen Haufen bleicher, abgenagter Knochen aus der Finsternis, die fein säuberlich auf einen Haufen gestapelt worden waren. Obenauf lag ein Totenschädel, dessen Augenhöhlen ihn höhnisch angrinsten, und neben dem Knochenhaufen lag eine zerfetzte, weiße Bluse. Der Vermummte wandte sich schaudernd ab.
Seit die Maschine auf dem Flughafen Wien-Schwechat gelandet war, litt Dorian Hunter an Kopfschmerzen, und seine Gedanken verwirrten sich immer wieder. Noch in London hatte er einen Mietwagen bestellt und ihn sofort nach der Zollabfertigung ausgehändigt bekommen. Nach den Vorfällen auf der Hexenburg derer von Lethian war seine Frau Lilian in eine Wiener Privatklinik
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